Zur Reichweite polizeilicher Befugnisse und Belehrungspflichten nach § 163b StPO: Die polizeiliche Identitätsfeststellung ist in der Strafprozessordnung als niedrigschwellige Maßnahme ausgestaltet – doch gerade in dynamischen Einsatzlagen können sich komplexe Rechtsfragen ergeben. Der Beschluss des 2. Strafsenats des OLG Hamm vom 18. Februar 2025 (2 ORs 5/25) beleuchtet diese Problematik im Zusammenhang mit einem tätlichen Angriff auf Vollstreckungsbeamte, der während einer Identitätsfeststellung begangen worden sein soll.
Sachverhalt
Auslöser des Geschehens war ein nächtlicher Polizeieinsatz infolge einer gemeldeten Schlägerei mit etwa zehn Beteiligten auf dem Gelände eines Baumarkts. Der Angeklagte, der sich mit zwei weiteren Personen in der Nähe befand, wurde von den Beamten kontrolliert und zur Vorlage eines Ausweises aufgefordert. Diese verweigerte er, kündigte stattdessen an, seinen Anwalt zu kontaktieren und führte sein Handy ans Ohr. Einer der Beamten unterband das Telefonat durch körperliche Einwirkung – angeblich zur Gefahrenabwehr. In der Folge kam es zu einer körperlichen Auseinandersetzung zwischen dem Beamten und dem Angeklagten. Das Amtsgericht Witten verurteilte den Angeklagten wegen tätlichen Angriffs in Tateinheit mit Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte. Die Revision führte nun zur Aufhebung des Urteils.
Rechtliche Würdigung durch das OLG Hamm
Zentral für die Beurteilung war die Frage, ob die polizeiliche Maßnahme – insbesondere das Unterbinden des anwaltlichen Telefonats – eine rechtmäßige Diensthandlung im Sinne der §§ 113 Abs. 3, 114 Abs. 3 StGB darstellte. Denn nur bei Vorliegen einer solchen rechtmäßigen Maßnahme kann strafbarer Widerstand oder tätlicher Angriff im Sinne der genannten Vorschriften bejaht werden.
Maßstab für die Rechtmäßigkeit
Das OLG hebt zutreffend hervor, dass die Rechtmäßigkeit einer polizeilichen Maßnahme im strafrechtlichen Kontext nicht nur eine gesetzliche Eingriffsgrundlage sowie sachliche und örtliche Zuständigkeit erfordert, sondern auch die Einhaltung aller wesentlichen Förmlichkeiten und eine pflichtgemäße Ermessensausübung (unter Bezug auf BGH, Beschl. v. 28.11.2023 – 6 StR 249/23).
Im konkreten Fall ergab sich die Eingriffsgrundlage aus § 163b Abs. 1 StPO, da die Maßnahme nicht präventiv-polizeilich, sondern repressiv zur Aufklärung einer Straftat angeordnet wurde.
Verteidigerkontakt nach § 137 Abs. 1 StPO – aber nicht zu jedem Zeitpunkt
Beachtenswert ist die differenzierte Argumentation des Senats zum Recht auf Verteidigerkonsultation. Zwar steht dieses Recht grundsätzlich auch Personen zu, deren Identität polizeilich festgestellt werden soll. Gleichwohl erkennt das Gericht an, dass dieses Recht in einer dynamischen und potenziell gefährlichen Einsatzsituation – wie sie hier vorlag – nicht schrankenlos gilt. Unter Hinweis auf die Kommentarliteratur und Rechtsprechung betont der Senat, dass etwa bei unübersichtlichen Personenkonstellationen auf offener Straße eine zeitliche Einschränkung des Zugangs zum Rechtsbeistand zulässig sein kann.
Die Maßnahme des Beamten, das Telefonat zu unterbinden, wird insofern als nachvollziehbar bezeichnet, ohne diese jedoch abschließend als rechtmäßig zu qualifizieren. Eine vollständige Rechtfertigung wurde im konkreten Fall jedoch ohnehin durch ein vorgelagertes Versäumnis verhindert.
Belehrungspflicht bei Identitätsfeststellung
Das entscheidende Defizit lag nach Ansicht des OLG in der Nichtbeachtung der Belehrungspflicht gemäß § 163b Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 163a Abs. 4 Satz 1 StPO. Danach ist dem Betroffenen bei Beginn der Maßnahme zu eröffnen, welcher Straftat er verdächtig ist – es sei denn, der Anlass ist offenkundig oder würde durch die Belehrung gefährdet.
Eine solche Belehrung war im erstinstanzlichen Urteil nicht festgestellt worden. Dies stellt eine Verletzung einer wesentlichen Förmlichkeit dar und führt dazu, dass die gesamte Identitätsfeststellung nicht als rechtmäßige Diensthandlung qualifiziert werden kann. In der Folge war auch die spätere Anwendung unmittelbaren Zwangs – etwa zum Unterbinden des Telefonats – nicht gedeckt.
Das OLG verweist darauf, dass die formelle Rechtmäßigkeit der Maßnahme Voraussetzung für eine Strafbarkeit nach §§ 113, 114 StGB ist. Fehlt es hieran, entfällt die Strafbarkeit für den körperlichen Widerstand.
Ausblick für die neue Hauptverhandlung
Das Gericht hebt das Urteil auf und verweist die Sache zurück an das Amtsgericht. Für das neue Verfahren gibt es konkrete Hinweise: Sollte der tätliche Angriff erneut festgestellt werden, ist auch die etwaige Körperverletzung in den Blick zu nehmen. Dabei hebt das OLG hervor, dass selbst bei bloß versuchter Körperverletzung ein tateinheitlicher Zusammenhang mit § 114 StGB gegeben sein kann – dies jedoch nicht zwangsläufig zu einer Verschlechterung der Rechtsfolgen im Sinne von § 358 Abs. 2 Satz 1 StPO führt.
Quintessenz
Die Entscheidung des OLG Hamm verdeutlicht mit hoher dogmatischer Präzision die Bedeutung formeller Anforderungen an polizeiliche Maßnahmen im Strafverfahren. Der Verzicht auf eine ordnungsgemäße Belehrung bei einer Identitätsfeststellung kann weitreichende strafprozessuale Folgen haben – bis hin zur Straflosigkeit eines tätlichen Angriffs auf Vollstreckungsbeamte. Zugleich unterstreicht der Senat, dass das Recht auf anwaltlichen Beistand auch bei vermeintlich niederschwelligen Maßnahmen nicht uneingeschränkt gilt, sondern unter dem Vorbehalt praktischer Durchführbarkeit und Verhältnismäßigkeit steht.
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