Die Einsichtnahme in staatsanwaltschaftliche Ermittlungsakten ist ein sensibles Thema, das die Balance zwischen Pressefreiheit, Datenschutz und den Rechten von Betroffenen berührt. Das Verwaltungsgericht Neustadt an der Weinstraße hat mit Urteil vom 7. November 2023 (Az. 5 K 75/23.NW) entschieden, dass ein Journalist unter bestimmten Voraussetzungen Anspruch auf Einsicht in Ermittlungsakten hat.
Der Fall betraf einen britischen Journalisten, der Akteneinsicht in ein Ermittlungsverfahren beantragte, das sich mit der Ermordung von Angehörigen der Familie Robert Einsteins durch deutsche Soldaten im Jahr 1944 befasste. Das Gericht gewährte dem Kläger die begehrte Einsicht und setzte damit ein deutliches Zeichen für die Bedeutung der historischen Aufarbeitung und der journalistischen Recherchefreiheit.
Hintergrund des Falls
Der Kläger, ein renommierter britischer Journalist und Schriftsteller, recherchierte zu einem historischen Kriegsverbrechen, das im Zweiten Weltkrieg in der Nähe von Florenz verübt wurde. Er beantragte die Einsicht in die entsprechenden Ermittlungsakten der Staatsanwaltschaft Frankenthal, um die Umstände der Tat sowie den Umgang der deutschen Justiz mit dem Fall nachzuverfolgen.
Die Staatsanwaltschaft verweigerte ihm die Einsicht mit der Begründung, dass die Akten umfangreiche personenbezogene Daten enthielten und eine Anonymisierung aufgrund des hohen Bearbeitungsaufwands nicht möglich sei. Zudem wurde argumentiert, dass ein presserechtlicher Auskunftsanspruch nicht automatisch eine Einsicht in vollständige Ermittlungsakten bedeute.
Rechtliche Kernfragen und Abwägung des Gerichts
Das Verwaltungsgericht Neustadt hatte zu klären, ob der Journalist auf Grundlage des Landesmediengesetzes (LMG) und der Pressefreiheit aus Art. 5 GG ein Recht auf Akteneinsicht geltend machen kann.
Das Gericht stellte fest, dass Presserecht grundsätzlich auf Auskunftsansprüche beschränkt ist. Die Behörden müssen Anfragen von Journalisten beantworten, haben aber einen Ermessensspielraum bei der Art der Informationsweitergabe. In besonderen Fällen kann sich dieser Anspruch jedoch zu einem Recht auf Einsicht in Akten verdichten, wenn eine vollständige und sachgerechte Recherche nur durch direkten Zugang zu den Dokumenten möglich ist.
Das Gericht erkannte an, dass es sich hier um ein außergewöhnliches historisches Ereignis handelt, dessen Aufarbeitung ein hohes öffentliches Interesse genießt. Auch wenn das Ermittlungsverfahren bereits seit Jahren eingestellt war, sei die journalistische und wissenschaftliche Relevanz der Akten nicht entfallen.
Zudem wies das Gericht das Argument der Staatsanwaltschaft zurück, wonach eine Anonymisierung der personenbezogenen Daten einen unzumutbaren Verwaltungsaufwand darstelle. Die Behörde sei verpflichtet, ihre Arbeitsorganisation so zu gestalten, dass der Zugang zu Informationen ermöglicht wird. Die bloße Existenz personenbezogener Daten sei kein hinreichender Grund für eine vollständige Verweigerung der Einsicht.
Datenschutz versus Informationsinteresse der Öffentlichkeit
Ein zentrales Argument der Staatsanwaltschaft war der Schutz personenbezogener Daten. Die Ermittlungsakten enthielten Informationen über damalige Soldaten sowie deren Angehörige, die möglicherweise noch am Leben seien. Es bestehe die Gefahr, dass durch die Offenlegung der Akten ehemalige Verdächtige oder Zeugen in der Öffentlichkeit zu Unrecht stigmatisiert würden.
Das Gericht stellte klar, dass personenbezogene Daten in den Akten soweit wie möglich zu anonymisieren sind, um den Schutz der betroffenen Personen zu gewährleisten. Gleichzeitig müsse aber eine Abwägung erfolgen:
- Da es sich um ein NS-Kriegsverbrechen handelt, überwiegt das Interesse an der historischen Aufarbeitung.
- Die Veröffentlichung wahrer Tatsachen stellt keine Verletzung des postmortalen Persönlichkeitsrechts dar.
- Die Aufklärung solcher Verbrechen dient einem herausgehobenen öffentlichen Interesse.
Das Gericht ließ die Möglichkeit offen, dass einzelne besonders schützenswerte Informationen geschwärzt werden können. Dies müsse jedoch individuell geprüft werden und dürfe nicht pauschal zur Verweigerung der Einsicht führen.
Praktische Bedeutung der Entscheidung
Die Entscheidung des Verwaltungsgerichts Neustadt stärkt die Rechte von Journalisten und Historikern bei der Einsicht in behördliche Akten. Behörden können sich nicht mehr pauschal auf Datenschutz oder Arbeitsaufwand berufen, um Anfragen abzulehnen.
Für Journalisten bedeutet das Urteil, dass sie bei besonderen Recherchen ein direktes Einsichtsrecht in Ermittlungsakten erstreiten können – insbesondere wenn eine sachgerechte Berichterstattung ohne den vollständigen Aktenzugang nicht möglich wäre.
Für die Justizverwaltungen ergibt sich daraus die Notwendigkeit, transparente Verfahren für die Bearbeitung von Einsichtsanträgen zu entwickeln und Datenschutzmaßnahmen gezielt auf tatsächlich schutzwürdige Informationen zu beschränken.
Fazit
Das Verwaltungsgericht Neustadt hat mit seinem Urteil einen wichtigen Präzedenzfall für den Zugang zu staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsakten geschaffen. Es zeigt, dass die Pressefreiheit auch über die reine Auskunftspflicht hinausgehen kann, wenn das öffentliche Interesse an einer historischen Aufarbeitung überwiegt.
Gleichzeitig bleibt der Datenschutz ein wichtiger Faktor, der jedoch nicht als generelles Hindernis für journalistische Recherche genutzt werden darf. Die Entscheidung verdeutlicht, dass eine sorgfältige Abwägung zwischen den Grundrechten auf Pressefreiheit und informationelle Selbstbestimmung notwendig ist – ein Balanceakt, der für zukünftige Fälle wegweisend sein könnte.
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