Am 26. September 2024 entschied das Oberlandesgericht (OLG) Celle in einem Beschwerdeverfahren zur Untersuchungshaft über die Frage, ob eine erhebliche Verzögerung bei der Vorführung eines Beschuldigten zur Aufhebung des Haftbefehls führen muss. In diesem Fall war der Beschuldigte nach seiner Auslieferung aus Polen erst nach mehr als zwei Monaten dem zuständigen Gericht vorgeführt worden. Der Beschuldigte argumentierte, dass diese Verzögerung eine Verletzung seines Freiheitsgrundrechts darstellte und die Untersuchungshaft daher rechtswidrig sei.
Das OLG Celle musste entscheiden, ob die Untersuchungshaft aufgrund dieses Verfahrensfehlers aufzuheben war oder ob der Haftbefehl wegen bestehender Fluchtgefahr und dringenden Tatverdachts aufrechterhalten werden konnte.
Sachverhalt
Der Beschuldigte wurde 2012 wegen schweren Raubes und gefährlicher Körperverletzung gesucht und nach jahrelanger Haft in Polen im Juni 2024 nach Deutschland ausgeliefert. Er wurde an der deutsch-polnischen Grenze festgenommen und zunächst einem örtlichen Amtsgericht vorgeführt, anstatt dem zuständigen Amtsgericht Celle. Obwohl der Beschuldigte unverzüglich eine Vorführung vor das zuständige Gericht forderte, wurde dies erst nach über zwei Monaten nachgeholt.
Der Beschuldigte argumentierte, dass diese Verzögerung gegen sein Recht auf unverzügliche richterliche Vorführung gemäß Art. 104 Abs. 3 Grundgesetz (GG) und Art. 5 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) verstoße und die Untersuchungshaft damit rechtswidrig sei.
Rechtliche Analyse
- Vorführungspflicht und Verfahrensverstoß
Nach Art. 104 Abs. 3 GG muss ein Beschuldigter spätestens am Tag nach seiner Festnahme einem Richter vorgeführt werden. Dies wird durch §§ 115, 115a StPO konkretisiert, die eine unverzügliche Vorführung vorsehen. Hier wurde diese Pflicht mehrfach verletzt. Zunächst wurde der Beschuldigte vor ein örtlich unzuständiges Gericht geführt, obwohl er eine Vorführung vor das zuständige Amtsgericht Celle beantragt hatte. Dieser Antrag wurde ignoriert, und die Nachholung erfolgte erst zwei Monate später. Das OLG Celle stellte fest, dass diese Verzögerung einen erheblichen Verstoß gegen die Rechte des Beschuldigten darstellt. Nach ständiger Rechtsprechung sind Verfahrensverstöße in Haftsachen schwerwiegende Eingriffe in das Freiheitsgrundrecht. Die Gerichte müssen solche Verstöße ernst nehmen, da das Freiheitsrecht zu den grundlegendsten Rechten zählt. - Fluchtgefahr und dringender Tatverdacht
Trotz dieses erheblichen Verstoßes entschied das Gericht, dass der Haftbefehl nicht aufgehoben wird, da nach wie vor dringender Tatverdacht und Fluchtgefahr bestanden. Der Beschuldigte war wegen eines schwerwiegenden Raubdelikts angeklagt, und die hohe Straferwartung begründete eine erhebliche Fluchtgefahr. Das Gericht berief sich auf den Haftgrund gemäß § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO, der die Aufrechterhaltung des Haftbefehls rechtfertigte. - Verhältnismäßigkeit der Haftfortdauer
Obwohl der Verfahrensverstoß anerkannt wurde, entschied das OLG, dass die Untersuchungshaft weiterhin verhältnismäßig sei. Das Gericht hob hervor, dass eine verspätete Vorführung nicht automatisch zur Aufhebung des Haftbefehls führt, wenn die Verfahrensmängel im Nachhinein geheilt werden. In diesem Fall wurde der Beschuldigte schließlich vor das zuständige Gericht gebracht, und die nachgeholte richterliche Anhörung konnte den Verfahrensverstoß für die Zukunft beseitigen. - Rechtswidrigkeit der Haft bis zur Vorführung
Dennoch stellte das Gericht fest, dass die Untersuchungshaft im Zeitraum zwischen dem 20. Juni und dem 1. September 2024 rechtswidrig war. Der Beschuldigte habe während dieser Zeit unrechtmäßig in Haft gesessen, da sein Grundrecht auf rechtliches Gehör verletzt worden sei. Diese Feststellung der Rechtswidrigkeit war notwendig, um den Verstoß gegen die Verfahrensrechte des Beschuldigten anzuerkennen.
Fazit
Das OLG Celle entschied, dass die Untersuchungshaft des Beschuldigten bis zur verspäteten richterlichen Vorführung rechtswidrig war. Dennoch wurde der Haftbefehl aufrechterhalten, da dringender Tatverdacht und Fluchtgefahr weiterhin bestanden. Diese Entscheidung verdeutlicht die Abwägung zwischen dem Schutz der Verfahrensrechte des Beschuldigten und der Notwendigkeit, die Untersuchungshaft bei schwerwiegenden Delikten aufrechtzuerhalten. Trotz erheblicher Verfahrensverstöße kann die Untersuchungshaft bei fortbestehendem Haftgrund verhältnismäßig sein, wenn die Fehler im Nachhinein geheilt werden.
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