Das Thüringer Oberlandesgericht (OLG) Jena hat mit Beschluss vom 14. Februar 2025 (Az. 1 OAus 33/24) eine wegweisende Entscheidung zur Frage getroffen, unter welchen Voraussetzungen eine verfolgte Person im Auslieferungsverfahren einen zwingenden Anspruch auf einen anwaltlichen Beistand hat.
Im Mittelpunkt der Entscheidung stand die Auslegung von § 40 Abs. 2 des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen (IRG). Das Gericht stellte klar, dass eine notwendige Rechtsbeistandschaft nur dann gegeben ist, wenn die Festnahme der verfolgten Person unmittelbar aufgrund des Auslieferungsverfahrens erfolgt. Wird die Person jedoch wegen einer anderen Straftat inhaftiert und die Auslieferungshaft nur als „Überhaft“ notiert, besteht kein automatischer Anspruch auf einen Pflichtverteidiger.
Sachverhalt
Gegen den Betroffenen lag ein Europäischer Haftbefehl der Generalstaatsanwaltschaft der Republik L. wegen mehrfachen Wohnungseinbruchsdiebstahls vor. Die Behörden der Bundesrepublik Deutschland wurden über das Schengener Informationssystem um seine Festnahme ersucht.
Zum Zeitpunkt des Auslieferungsersuchens befand sich der Betroffene bereits seit dem 18. April 2024 in Untersuchungshaft bzw. Strafhaft wegen anderer Delikte. Aufgrund dessen wurde die Auslieferungshaft lediglich als „Überhaft“ vermerkt, sodass die Inhaftierung nicht unmittelbar mit dem Auslieferungsverfahren zusammenhing.
Das Amtsgericht Suhl bestellte dennoch einen Rechtsanwalt als Pflichtverteidiger für den Betroffenen. Die Thüringer Generalstaatsanwaltschaft legte dagegen sofortige Beschwerde ein, mit der Begründung, dass die Voraussetzungen der notwendigen Rechtsbeistandschaft nach § 40 Abs. 2 IRG nicht erfüllt seien. Das OLG Jena gab der Generalstaatsanwaltschaft Recht und hob die Bestellung des Pflichtverteidigers auf.
Rechtliche Bewertung
1. Grundsatz der freiwilligen Rechtsbeistandschaft im Auslieferungsverfahren
Nach § 40 Abs. 1 IRG steht es einer verfolgten Person grundsätzlich frei, sich in jeder Lage des Verfahrens eines Rechtsbeistands zu bedienen. Dies bedeutet, dass ein Betroffener stets einen Anwalt konsultieren kann, wenn er dies für erforderlich hält.
Anders verhält es sich jedoch bei der notwendigen Rechtsbeistandschaft nach § 40 Abs. 2 IRG. Diese greift nur in bestimmten Fällen zwingend ein und verpflichtet den Staat zur Bestellung eines Pflichtverteidigers.
2. Notwendige Rechtsbeistandschaft nach § 40 Abs. 2 IRG – Einschränkende Auslegung
Das OLG Jena stellte klar, dass eine notwendige Rechtsbeistandschaft nur dann gegeben ist, wenn die Festnahme der verfolgten Person „gerade in der Auslieferungssache“ erfolgt.
Diese restriktive Auslegung wird mit der europäischen PKH-Richtlinie (Richtlinie 2016/1919/EU) begründet, welche die Mitgliedstaaten verpflichtet, gesuchten Personen ab dem Zeitpunkt der Festnahme aufgrund eines Europäischen Haftbefehls Prozesskostenhilfe zu gewähren. Das OLG betonte, dass die Vorschrift eine „unmittelbare kausale Verknüpfung“ zwischen Festnahme und Europäischem Haftbefehl verlangt.
Da der Betroffene bereits aus anderen Gründen inhaftiert war, wurde die Auslieferungshaft nur als „Überhaft“ vermerkt, sodass der erforderliche Zusammenhang fehlte. Dies genügte nach Auffassung des Gerichts nicht, um eine notwendige Rechtsbeistandschaft zu begründen.
3. Einzelfallprüfung nach § 40 Abs. 3 IRG – Keine besonderen Umstände erkennbar
Das Gericht prüfte anschließend, ob eine notwendige Beiordnung eines Verteidigers nach § 40 Abs. 3 IRG in Betracht kam. Danach besteht ein Anspruch auf einen Rechtsbeistand, wenn:
- die Sach- oder Rechtslage besonders schwierig ist,
- der Betroffene seine Rechte nicht selbst ausreichend wahrnehmen kann oder
- er minderjährig ist.
Das OLG Jena verneinte sämtliche dieser Voraussetzungen.
a) Keine schwierige Sach- oder Rechtslage
Eine schwierige Sachlage kann sich ergeben, wenn umfangreiche oder komplexe rechtliche Bewertungen erforderlich sind. Das OLG Jena stellte jedoch fest, dass es sich bei der Auslieferung aufgrund eines Europäischen Haftbefehls um einen vergleichsweise klaren Fall handelte. Die Anforderungen an die gerichtliche Prüfung seien reduziert, sodass weder tatsächliche noch rechtliche Schwierigkeiten ersichtlich seien.
Zudem sei die Prüfung der Zulässigkeit der Auslieferung nach § 32 IRG ein gängiges Verfahren, das regelmäßig ohne besondere Verteidigung erfolgen könne. Die bloße Notwendigkeit einer solchen Prüfung begründe keinen Anspruch auf einen Pflichtverteidiger.
b) Der Betroffene konnte seine Rechte selbst wahrnehmen
Ein Pflichtverteidiger wäre zudem dann notwendig gewesen, wenn der Betroffene aus persönlichen oder sprachlichen Gründen nicht in der Lage gewesen wäre, seine Rechte auszuüben.
Das Gericht stellte jedoch fest, dass der Betroffene weder geistig noch physisch beeinträchtigt war. Selbst die Tatsache, dass er der deutschen Sprache nicht hinreichend mächtig war, führte nicht zur Beiordnung eines Pflichtverteidigers. Vielmehr könne diese Schwierigkeit durch einen Dolmetscher in den Anhörungen ausgeglichen werden.
c) Keine Minderjährigkeit
Da der Betroffene im Jahr 1980 geboren wurde, war die Voraussetzung des § 40 Abs. 3 Nr. 3 IRG (Minderjährigkeit) offensichtlich nicht erfüllt.
Folgen der Entscheidung
Das Urteil des OLG Jena verdeutlicht, dass im Auslieferungsverfahren hohe Hürden für die Bestellung eines Pflichtverteidigers bestehen.
- Eine automatische Pflichtverteidigung gibt es nur dann, wenn die Festnahme unmittelbar aufgrund des Auslieferungsersuchens erfolgt.
- Die Auslieferungshaft als „Überhaft“ reicht nicht aus, um eine notwendige Verteidigung zu begründen.
- Einzelfallumstände wie eine komplexe Rechtslage oder persönliche Einschränkungen des Betroffenen müssen konkret nachgewiesen werden.
Für die Praxis bedeutet dies, dass Betroffene sich frühzeitig um eine private anwaltliche Vertretung bemühen sollten, wenn sie im Auslieferungsverfahren effektiven Rechtsschutz wünschen. Die Gerichte sind nur in Ausnahmefällen verpflichtet, einen Pflichtverteidiger beizuordnen.
Es bleibt abzuwarten, ob höhere Instanzen oder das Bundesverfassungsgericht in Zukunft eine weitergehende Auslegung zugunsten der Betroffenen entwickeln werden. Derzeit steht jedoch fest: Wer sich gegen eine Auslieferung wehren will, kann sich nicht auf eine automatische Pflichtverteidigung verlassen.
Fazit
Die Entscheidung verdeutlicht die restriktiven Anforderungen des deutschen Auslieferungsrechts an die Beiordnung eines Rechtsbeistands und betont die Notwendigkeit einer einzelfallbezogenen Prüfung: Das OLG Jena folgt einer restriktiven Linie in der Auslegung des § 40 IRG und bestätigt damit die Tendenz der Rechtsprechung, die Beiordnung eines Pflichtverteidigers im Auslieferungsverfahren nur in klar geregelten Ausnahmefällen zuzulassen.
Die Entscheidung zeigt, dass sich das deutsche Recht eng an die europäischen Vorgaben anlehnt und die PKH-Richtlinie strikt auslegt. Dies führt dazu, dass Betroffene im Regelfall selbst für ihre anwaltliche Vertretung sorgen müssen – selbst wenn es um komplexe völkerrechtliche Fragen geht.
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