Während Social Media, Messaging-Apps und Cloud-Dienste unser tägliches Leben zunehmend bestimmen, nutzen Kriminelle dieselben Plattformen, um Straftaten zu planen, zu verschleiern und durchzuführen.
Vor diesem Hintergrund wird der Zugriff auf digitale Beweismittel zu einer der zentralen Herausforderungen moderner Strafverfolgung. Der SIRIUS EU Electronic Evidence Situation Report 2024, erstellt von Europol und Eurojust, widmet sich genau diesem Thema. Mit detaillierten Einblicken aus ganz Europa beleuchtet der Bericht die Fortschritte, Schwierigkeiten und Hoffnungen in einer Welt, in der Ermittlungen ohne elektronische Beweismittel kaum vorstellbar sind.
Warum elektronische Beweismittel so wichtig sind
Elektronische Beweismittel sind oft die einzige Spur, die Ermittler zu Tätern führt. Ob bei Cyberkriminalität, Terrorismus oder auch klassischer Wirtschaftskriminalität – digitale Spuren wie IP-Adressen, Verbindungsprotokolle oder Nutzerinformationen spielen eine Schlüsselrolle. Doch die rechtlichen und technischen Hürden beim Zugriff auf diese Daten sind enorm. Besonders in grenzüberschreitenden Fällen stehen Behörden vor dem Problem, dass die relevanten Daten oft in anderen Ländern gespeichert sind oder auf Plattformen, deren Betreiber außerhalb Europas sitzen.
Der jährlich erscheinende Sirius-Bericht zeigt eindrucksvoll, wie sehr die Strafverfolgung von einer effektiven Zusammenarbeit zwischen Polizei, Justiz und Dienstanbietern abhängt – und welche Stolpersteine auf dem Weg zu einer effizienteren Nutzung elektronischer Beweismittel liegen.
Die zentralen Erkenntnisse des Berichts
Ein wesentlicher Teil des Berichts widmet sich den Erfahrungen von Strafverfolgungsbehörden in der EU. Ihre zentrale Botschaft: Direkte Anfragen an Plattformbetreiber sind derzeit das wichtigste Instrument, um an relevante Daten zu kommen. Das betrifft vor allem Social-Media-Plattformen, Messaging-Dienste und Kryptowährungsbörsen, die in fast allen Ermittlungen eine Rolle spielen. Besonders Verbindungsdaten wie IP-Adressen oder Registrierungsinformationen sind unverzichtbar, wenn es darum geht, verdächtige Personen zu identifizieren.
Allerdings betonen die Behörden, dass der Prozess häufig zu langwierig und kompliziert ist. Oft sind es die uneinheitlichen Regelungen der Dienstanbieter, die den Zugriff auf Daten erschweren. Und obwohl das neue EU-Gesetzespaket zu elektronischen Beweismitteln (angenommen im Juli 2023) erhebliche Verbesserungen verspricht, fühlt sich die Mehrheit der Ermittler noch nicht ausreichend darauf vorbereitet.
Auf der Seite der Justiz zeigt sich ein ähnliches Bild: Europäische Ermittlungsanordnungen (EIO) und Rechtshilfeersuchen (MLA) sind zwar die zentralen Werkzeuge, doch ihre Langsamkeit steht dem flüchtigen Charakter digitaler Daten oft im Weg. Besonders problematisch ist die fehlende EU-weite Datenaufbewahrungspflicht. Wichtige Informationen sind oft bereits gelöscht, bevor sie durch ein Rechtshilfeverfahren gesichert werden können.
Fortschritte und Herausforderungen
Der Bericht zeigt aber auch positive Entwicklungen. Die Schulung von Ermittlern hat sich verbessert: 61 % der befragten Beamten gaben an, in den letzten Jahren eine spezielle Ausbildung zur Beweissicherung im digitalen Raum erhalten zu haben. Das SPoC-Modell (Single Point of Contact), bei dem spezialisierte Stellen den Datenzugriff koordinieren, wird zunehmend geschätzt. 74 % der Befragten äußerten sich positiv über die Zusammenarbeit mit Dienstanbietern, wenn diese zentral organisiert ist.
Dennoch bleibt viel zu tun. Dienstanbieter berichten von einer 22-prozentigen Zunahme von Datenanfragen durch europäische Behörden – eine Entwicklung, die zeigt, wie stark die Abhängigkeit von elektronischen Beweismitteln bereits ist. Gleichzeitig fordern sie mehr Klarheit und Unterstützung seitens der EU, insbesondere im Hinblick auf die Umsetzung der neuen Gesetzgebung, die ab 2026 gelten soll.
Hintergründe zu den Datenabfragen durch Ermittler
Die am häufigsten genutzten Wege, um Daten für Ermittlungen abzufragen, und die damit verbundenen Statistiken sind ein zentrales Thema im SIRIUS EU Electronic Evidence Situation Report 2024. Hier ein Überblick:
Wege zur Datenabfrage
- Direkte Anfragen an Dienstanbieter (Voluntary Cooperation)
Strafverfolgungsbehörden stellen direkte Anfragen an Plattformbetreiber wie Google, Meta oder TikTok. Diese Methode ist besonders wichtig, wenn es um nicht-inhaltliche Daten wie IP-Adressen oder Verbindungsprotokolle geht.
Nutzung: 59 % der Ermittler nannten direkte Anfragen als häufigsten Weg. - Rechtshilfeverfahren (Mutual Legal Assistance, MLA)
Dieser Weg ist formeller und wird genutzt, wenn Daten auf gerichtlichem Wege von einem anderen Land angefordert werden müssen.
Nutzung: 11 % der Ermittler nutzen diesen Weg primär. - Europäische Ermittlungsanordnungen (European Investigation Order, EIO)
Speziell für EU-Länder gedacht, ermöglicht die EIO eine schnellere und standardisierte Übermittlung von Daten.
Nutzung: 10 % der Ermittler gaben an, diese Methode häufig zu nutzen. - Notfallanfragen (Emergency Disclosure Requests, EDR)
Diese werden bei dringenden Gefährdungssituationen, etwa bei Terrorismus oder Entführungen, eingesetzt.
Nutzung: 6 % nannten EDRs als den wichtigsten Weg. - Anfragen auf Grundlage des Digital Services Act (DSA)
Seit 2024 erlaubt der DSA, dass Anfragen direkt an große Plattformbetreiber gestellt werden können, wenn diese in der EU aktiv sind.
Nutzung: 5 % der Ermittler haben den DSA als primären Weg genutzt.
Welche Daten werden am häufigsten abgefragt?
Die wichtigsten Arten von Daten, die für Ermittlungen benötigt werden, sind:
- Verbindungsprotokolle: Zeit, Datum und IP-Adresse von Verbindungen zu Online-Diensten.
- Nutzername: Der Name des registrierten Nutzers.
- IP-Adresse bei der Registrierung: Die IP-Adresse, die beim ersten Anlegen eines Kontos verwendet wurde.
Die Mehrheit der Ermittler stuft laut Report Verbindungsprotokolle und IP-Adressen als unverzichtbar ein. Der Anteil der Ermittler, die inhaltliche Daten (z. B. Nachrichteninhalte) als entscheidend betrachten, liegt nur bei 14 %, was einen Rückgang von 2 % im Vergleich zum Vorjahr bedeutet.
Ausblick: Eine digitale Strafverfolgung für das 21. Jahrhundert
Der SIRIUS-Bericht endet mit einer klaren Botschaft: Wenn die EU ihre Strafverfolgungsbehörden für die digitale Ära fit machen will, sind gemeinsame Standards, bessere Ausbildung und eine stärkere Einbindung der Dienstanbieter unerlässlich. Gleichzeitig muss das Bewusstsein dafür geschärft werden, dass Technologien wie künstliche Intelligenz und die Verschlüsselung von Kommunikationsdiensten die Ermittlungsarbeit weiter erschweren werden.
Die Einführung der EU-Richtlinie zu elektronischen Beweismitteln bietet die Chance, viele der bestehenden Probleme zu lösen. Doch diese Chance wird nur genutzt werden können, wenn alle Beteiligten – von der Polizei über die Justiz bis hin zu den Dienstanbietern – eng zusammenarbeiten.
Fazit
Der SIRIUS EU Electronic Evidence Situation Report 2024 ist mehr als nur eine Zustandsbeschreibung. Er ist ein Weckruf für alle, die an der Strafverfolgung in Europa beteiligt sind. In einer Zeit, in der Verbrechen immer digitaler werden, ist der Zugang zu elektronischen Beweismitteln nicht länger eine Option, sondern eine Notwendigkeit. Europa steht vor der Aufgabe, einen digitalen Raum zu schaffen, in dem Sicherheit und Recht Hand in Hand gehen – und dieser Bericht zeigt, wie das gelingen kann.
Die bevorzugten Wege zur Datenabfrage spiegeln dabei ein Spannungsfeld zwischen Effizienz und rechtlicher Absicherung wider. Während direkte Anfragen schnell und praktisch sind, fehlt ihnen oft die rechtliche Bindungskraft, die durch MLA oder EIO gegeben ist. Die häufigste Nutzung direkter Anfragen zeigt, wie wichtig schnelle und unkomplizierte Wege für die Strafverfolgung sind – trotz der damit verbundenen Unsicherheiten.