Der BGH-Beschluss vom 18. Juni 2024 (2 StR 205/24) beleuchtet die besondere Sorgfalt, die Gerichte in Fällen von Aussage-gegen-Aussage-Konstellationen walten lassen müssen. In der Entscheidung wurde ein Urteil aufgehoben, weil das Landgericht Meiningen wesentliche Anforderungen an die Beweiswürdigung nicht erfüllt hatte. Dieses Urteil gibt Anlass, die Problematik und Anforderungen in solchen Konstellationen unter Berücksichtigung der bisherigen Rechtsprechung zu analysieren.
Sachverhalt
Der Angeklagte wurde wegen schweren sexuellen Missbrauchs seiner Tochter verurteilt. Die Überzeugung des Gerichts beruhte entscheidend auf den Aussagen der Nebenklägerin. Während elf Anklagepunkte nach § 154 Abs. 2 StPO eingestellt wurden, erfolgte eine Verurteilung nur in zwei Fällen. Der BGH beanstandete die mangelhafte Beweiswürdigung und die fehlende Auseinandersetzung mit Widersprüchen in den Aussagen der Belastungszeugin.
Rechtliche Anforderungen bei Aussage-gegen-Aussage-Situationen
Die Beurteilung der Glaubhaftigkeit von Aussagen ist in solchen Fällen besonders herausfordernd. Im strafprozessualen Sinne beschreibt eine Aussage-gegen-Aussage-Situation eine Beweiskonstellation, in der die belastenden Aussagen eines Zeugen (häufig des mutmaßlichen Opfers) den einzigen belastenden Beweis gegen den Angeklagten darstellen, der die Tat bestreitet oder schweigt. In solchen Fällen gibt es keine objektiven oder unabhängigen Beweismittel wie Sachbeweise, Geständnisse oder Zeugenaussagen Dritter, die die Schuld oder Unschuld des Angeklagten stützen könnten. Eine solche Situation liegt dagegen nicht vor, nur weil es überhaupt nur einen Zeugen gibt!
Charakteristika einer Aussage-gegen-Aussage-Situation
- Fehlen objektiver Beweismittel
Es gibt keine physischen Beweise (z. B. DNA-Spuren, Videoaufnahmen), die den Sachverhalt klären könnten. - Einzelner Belastungszeuge
Die belastende Aussage eines Zeugen steht im Mittelpunkt des Verfahrens. Diese Aussage wird oft durch nichts anderes gestützt. - Bestreiten oder Schweigen des Angeklagten
Der Angeklagte bestreitet die Vorwürfe oder macht keine Angaben zur Sache, was die Beweislage auf die Aussage des Belastungszeugen fokussiert.
Problematik und Anforderungen
In einer solchen Konstellation hat das Gericht die besondere Aufgabe, die Aussage des Belastungszeugen auf ihre Glaubhaftigkeit und den Belastungszeugen auf seine Glaubwürdigkeit zu prüfen. Dabei sind folgende Punkte entscheidend:
- Glaubhaftigkeitsprüfung
- Sind die Schilderungen des Belastungszeugen in sich stimmig, detailliert und widerspruchsfrei?
- Gibt es psychologische oder sachliche Gründe, die die Aussage beeinflusst haben könnten?
- Glaubwürdigkeitsprüfung
- Hat der Zeuge ein erkennbares Motiv, den Angeklagten zu belasten?
- Liegt eine mögliche Beeinflussung oder Suggestion vor (z. B. durch Dritte oder durch die Umstände der Vernehmung)?
- Gesamtschau: Die Aussage muss im Kontext aller weiteren Umstände des Falles betrachtet werden. Dazu gehört auch, ob es Anhaltspunkte gibt, die die Aussage stützen oder widerlegen könnten (z. B. Verhalten vor oder nach der Tat, widersprüchliche Angaben).
Rechtsprechung zur Aussage-gegen-Aussage-Situation
Der Bundesgerichtshof (BGH) hat mehrfach klargestellt, dass in solchen Fällen besondere Anforderungen an die Beweiswürdigung gestellt werden. Die Gerichte müssen:
- Die belastende Aussage besonders sorgfältig prüfen und dokumentieren.
- Eventuelle Widersprüche oder Erinnerungslücken analysieren und plausibel erklären.
- Unterstützende Indizien oder das Fehlen solcher Indizien in die Würdigung einbeziehen.
Umgang mit Aussage-gegen-Aussage-Situationen
Eine Aussage-gegen-Aussage-Situation ist daher eine der anspruchsvollsten Beweiskonstellationen im Strafprozess, da sie ein hohes Risiko von Fehlurteilen birgt und ein Maximum an Sorgfalt erfordert. Der BGH hat hierfür eine klare Linie entwickelt, die Gerichte zwingt, sorgfältig und umfassend vorzugehen:
1. Besondere Anforderungen an die Beweiswürdigung
In Aussage-gegen-Aussage-Konstellationen sind Gerichte verpflichtet:
- Alle Umstände zu beleuchten, die für oder gegen die Glaubwürdigkeit des Belastungszeugen sprechen.
- Die Aussage selbst einer Glaubhaftigkeitsprüfung zu unterziehen und etwaige Widersprüche oder Erinnerungslücken klar zu analysieren.
- Unterstützende oder widerlegende Indizien vollständig in die Beweiswürdigung einzubeziehen.
2. Darstellung der Gründe
Die schriftlichen Urteilsgründe müssen nachvollziehbar darlegen:
- Welche Aspekte zur Überzeugung des Gerichts beigetragen haben.
- Weshalb widersprüchliche oder unklare Aussagen nicht zu Lasten der Glaubwürdigkeit gewertet wurden.
3. Auseinandersetzung mit Teileinstellungen
Werden Tatvorwürfe nach § 154 Abs. 2 StPO eingestellt, sind die Gründe hierfür zu dokumentieren. Diese Gründe können Rückschlüsse auf die Glaubhaftigkeit der verbleibenden Vorwürfe erlauben.
Vergleich mit früherer Rechtsprechung
Der Beschluss steht in einer Reihe mit anderen wegweisenden Entscheidungen des BGH:
- BGH, 1 StR 299/20
Hier wurde betont, dass Gerichte bei Aussage-gegen-Aussage-Situationen alle relevanten Umstände in einer Gesamtschau würdigen müssen. Der aktuelle Beschluss präzisiert diese Anforderungen nochmals. - BGH, 4 StR 400/22
Diese Entscheidung hob hervor, dass ein Gericht auch die Gründe für Teileinstellungen umfassend darlegen muss, um die Glaubhaftigkeit der verbleibenden Aussagen überprüfen zu können. Der Beschluss 2 StR 205/24 knüpft an diese Argumentation an. - BGH, 6 StR 281/22
Der BGH mahnte hier eine lückenlose Dokumentation der Beweiswürdigung an, um eine revisionsrechtliche Überprüfung zu ermöglichen. Dies wurde im aktuellen Fall ebenfalls eingefordert.
Einordnung und Bedeutung
Die Entscheidung unterstreicht die besondere Verantwortung der Gerichte in Fällen, in denen es keine objektiven Beweise gibt. Aussage-gegen-Aussage-Situationen erfordern ein Höchstmaß an Sorgfalt, um Fehlurteile zu vermeiden. Gleichzeitig setzt der BGH klare Maßstäbe, wie Gerichte diese schwierigen Konstellationen bewältigen können.
Aussage gegen Aussage ist hochgradig anspruchsvoll und nichts für Laien – das fängt schon damit an, dass „Aussage gegen Aussage“ für Strafrechtler nicht schon dann anzunehmen ist, wo Laien es immer erwarten …
Schlussfolgerung
Der Beschluss 2 StR 205/24 des BGH verdeutlicht erneut, dass die Würdigung von Aussagen in solchen Konstellationen methodisch einwandfrei erfolgen muss. Die Entscheidung zeigt auf, wie Widersprüche, Erinnerungslücken und Teileinstellungen in die Beweiswürdigung einzubeziehen sind. Strafrechtler sollten diese Entscheidung als Leitlinie für die Praxis heranziehen, um den Anforderungen an eine rechtsstaatliche Urteilsfindung gerecht zu werden.
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