Zurechnung eines tödlichen Exzesses bei gemeinschaftlicher Körperverletzung

BGH zur Auslegung des § 227 StGB: In Fällen gemeinschaftlicher Gewalttaten, bei denen das Opfer stirbt, ist die dogmatische Zurechnung des Todeserfolgs an die Beteiligten regelmäßig von zentraler Bedeutung – insbesondere dann, wenn der tödliche Angriff nur durch einen von mehreren Tätern verübt wurde.

Der Beschluss des 2. Strafsenats des Bundesgerichtshofs vom 29. Januar 2025 (2 StR 314/24) beschäftigt sich mit dieser anspruchsvollen Zurechnungsproblematik im Rahmen des § 227 StGB („Körperverletzung mit Todesfolge“), der Abgrenzung zu einem eigenverantwortlichen Exzess und der Behandlung von konkurrierenden Delikten. Die Entscheidung wirft ein Schlaglicht auf die Anforderungen an die richterliche Überzeugungsbildung, die Zurechnung des Todeserfolgs, das Verhältnis von § 224 zu § 227 StGB sowie auf verfahrensrechtliche Mindeststandards bei der Anwendung von § 64 StGB.

Sachverhalt

Die beiden Angeklagten übernachteten mit dem späteren Opfer B. im Sommer 2020 in einem Zeltlager. In der Nacht kam es zu einem Streit. Die Angeklagten verfolgten das flüchtende Opfer, bewaffnet mit einer Schaufel (H.) und einem Holzknüppel (M.). M. versetzte B. zunächst einen schweren Schlag mit dem Knüppel gegen den Kopf, woraufhin B. stürzte und einen Berstungsbruch des Schädels erlitt. Trotz dieser erheblichen Verletzung konnte sich B. noch einmal aufrichten.

Daraufhin schlug H. dem Opfer mehrfach mit der Schaufel ins Gesicht und auf den Schädel und versuchte schließlich, es mit einem Gürtel zu erdrosseln. Welche dieser Gewalteinwirkungen letztlich todesursächlich war, konnte das Landgericht – trotz gerichtsmedizinischer Begutachtung – nicht klären. Es nahm daher zu Gunsten der beiden Angeklagten jeweils an, dass der tödliche Verlauf jeweils nicht auf ihre eigene, sondern auf die Handlung des anderen zurückzuführen sei. H. wurde wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung, M. wegen Körperverletzung mit Todesfolge verurteilt.

Juristische Analyse

Zurechnung des Todeserfolgs bei mehraktigem Gewalthandeln (§ 227 StGB)

Die zentrale Frage betraf die Zurechnung des Todeserfolgs im Sinne des § 227 Abs. 1 StGB: Kann ein Mittäter für den Tod des Opfers verantwortlich gemacht werden, wenn dieser möglicherweise durch eine Handlung des anderen Tatbeteiligten eingetreten ist, die über die gemeinsame Verabredung hinausgeht?

Der BGH bejaht dies und stellt klar, dass nach gefestigter Rechtsprechung der Todeserfolg auch dann einem Täter zugerechnet werden kann, wenn er nicht auf eine eigene, sondern auf eine „exzessive“ Handlung des anderen zurückzuführen ist – vorausgesetzt, die vorangegangene gemeinschaftliche Körperverletzung begründete bereits eine tödliche Gefährdungssituation. Insbesondere dann, wenn das Opfer durch die erste gemeinschaftliche Gewaltanwendung in eine wehrlose Lage versetzt wird, aus der es sich der Gewalt des Mitangeklagten nicht mehr entziehen kann, ist auch ein exzessives Nachfolgeverhalten dem Ersttäter zurechenbar.

Dies traf hier zu: Der erste Schlag mit dem Knüppel war derart massiv, dass er ein realistisch vorhersehbares tödliches Risiko begründete. Das Opfer war infolge dieser Verletzung faktisch schutzlos. Der spätere Einsatz der Schaufel oder des Gürtels durch den Mittäter stellte aus Sicht des BGH eine vorhersehbare Eskalation dar. Eine Zurechnung des Todeserfolgs an M. – auch wenn der tödliche Ausgang ggf. auf spätere, eigenständige Gewaltakte des H. zurückzuführen war – sei daher gerechtfertigt.

Schuldspruchkorrektur: Versuchter Totschlag und Körperverletzung mit Todesfolge

Im Hinblick auf den Angeklagten H. korrigierte der Senat den Schuldspruch: Ausgehend von der Ungewissheit über den genauen Todeszeitpunkt des Opfers stellte der BGH klar, dass sich H. jedenfalls der versuchten Tötung schuldig gemacht hat, denn seine späteren Gewaltakte – insbesondere das Drosseln mit dem Gürtel – seien von bedingtem Tötungsvorsatz getragen gewesen. Zugleich sei ihm aber auch die Körperverletzung mit Todesfolge zuzurechnen, da sein Mittäter M. mit einer gemeinschaftlich getragenen Körperverletzungshandlung (dem Knüppelschlag) möglicherweise den Tod verursacht habe. Der BGH stellt ausdrücklich klar: § 224 StGB (gefährliche Körperverletzung) wird in diesen Konstellationen vom Unrechtsgehalt des § 227 Abs. 1 StGB vollumfänglich konsumiert und tritt zurück.

Keine Kollision mit dem Verschlechterungsverbot

Besonders instruktiv ist die Klarstellung, dass eine Schuldspruchverschärfung – hier: die zusätzliche Verurteilung wegen Körperverletzung mit Todesfolge – durch das Revisionsgericht nicht am Verschlechterungsverbot (§ 358 Abs. 2 StPO) scheitert, wenn der Angeklagte selbst Revision eingelegt hat. Ebenso sei die Änderung des Schuldspruchs mit Blick auf § 265 Abs. 1 StPO zulässig, da H. zuvor durch das Landgericht auf eine mögliche Strafbarkeit wegen Körperverletzung mit Todesfolge hingewiesen worden war.

Verfahrensrechtliche Mängel bei Strafzumessung und § 64 StGB

Ein erheblicher Teil des Beschlusses widmet sich revisionsrechtlich relevanten Fehlern bei der Strafzumessung. Die Jugendkammer hatte es unterlassen, für M. eine Einzelstrafe festzusetzen, obwohl dies die Grundlage für jede Gesamtstrafe darstellt. Daneben weist der BGH auf unzulängliche Darlegungen zur Schuldfähigkeit und zur Frage der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt (§ 64 StGB) hin. Zwar hatte offenbar ein psychiatrischer Sachverständiger das Gericht beraten, doch die Urteilsgründe geben keinerlei Auskunft über die Inhalte seiner Stellungnahme – ein durchgreifender Darlegungsmangel, der auch die revisionsgerichtliche Nachprüfung ausschließt.

Der BGH bekräftigt seine ständige Rechtsprechung: Der Tatrichter ist zwar nicht an das Gutachten gebunden, muss sich aber mit dessen wesentlichen Erwägungen auseinanderzusetzen. Auch bei einem etwaigen Abweichen vom Gutachten muss das Urteil in der Lage sein, dem Revisionsgericht eine Kontrolle zu ermöglichen. Das war hier nicht der Fall.

Quintessenz

Der Beschluss bekräftigt die Anforderungen an die Zurechnung eines tödlichen Erfolgs bei gemeinschaftlich begangenen Körperverletzungstaten. Die Entscheidung verdeutlicht, dass eine Exzesshandlung eines Mittäters nicht zwingend aus dem Zurechnungszusammenhang herausfällt, wenn die ursprüngliche gemeinsame Gewaltanwendung bereits eine tödliche Gefahr begründete. Darüber hinaus schärft der BGH das Verständnis für das Konkurrenzverhältnis von § 224 und § 227 StGB und erinnert zugleich an grundlegende verfahrensrechtliche Standards bei der Feststellung der Schuldfähigkeit und der Anwendung des Maßregelrechts.

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Rechtsanwalt Jens Ferner ist erfahrener Fachanwalt für Strafrecht sowie Fachanwalt für IT-Recht mit über einem Jahrzehnt Berufspraxis und widmet sich ganz der Tätigkeit als Strafverteidiger und dem IT-Recht - mit Schwerpunkten in Cybercrime, Cybersecurity, Softwarerecht und Managerhaftung. Er ist zertifizierter Experte für Krisenkommunikation & Cybersecurity; zudem Autor sowohl in Fachzeitschriften als auch in einem renommierten StPO-Kommentar zum IT-Strafprozessrecht sowie zur EU-Staatsanwaltschaft. Als Softwareentwickler ist er in Python zertifiziert und hat IT-Handbücher geschrieben.

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Von Rechtsanwalt Jens Ferner

Rechtsanwalt Jens Ferner ist erfahrener Fachanwalt für Strafrecht sowie Fachanwalt für IT-Recht mit über einem Jahrzehnt Berufspraxis und widmet sich ganz der Tätigkeit als Strafverteidiger und dem IT-Recht - mit Schwerpunkten in Cybercrime, Cybersecurity, Softwarerecht und Managerhaftung. Er ist zertifizierter Experte für Krisenkommunikation & Cybersecurity; zudem Autor sowohl in Fachzeitschriften als auch in einem renommierten StPO-Kommentar zum IT-Strafprozessrecht sowie zur EU-Staatsanwaltschaft. Als Softwareentwickler ist er in Python zertifiziert und hat IT-Handbücher geschrieben.

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