Mit Urteil vom 17. Oktober 2023 (Az. 7 U 54/21) hat das Hanseatische Oberlandesgericht Hamburg ein aufsehenerregendes medienrechtliches Verfahren entschieden, das weit über den konkreten Fall hinausweist. Im Zentrum stand die Frage, ob ein ehemaliger Aufsichtsratsvorsitzender einer Privatbank die wörtliche Veröffentlichung von Tagebucheinträgen verbieten lassen kann, die aus beschlagnahmten Unterlagen stammen und im Kontext strafrechtlicher Ermittlungen zur sogenannten Cum-Ex-Affäre mediale Aufmerksamkeit erfuhren. Das OLG bejahte die Zulässigkeit der Berichterstattung und betonte das überragende Interesse der Öffentlichkeit an der Aufklärung politisch und wirtschaftlich relevanter Vorgänge.
Hintergrund
Die in Rede stehenden Tagebücher wurden im Rahmen eines strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens wegen Steuerhinterziehung beschlagnahmt. Die Inhalte, insbesondere die Schilderungen hochrangiger Treffen mit politischen Entscheidungsträgern, gelangten an eine öffentlich-rechtliche Fernsehanstalt und wurden in einem Fernsehbeitrag sowie auf deren Website wörtlich zitiert. Der Betroffene klagte auf Unterlassung der Verbreitung dieser Auszüge und stützte sich dabei vor allem auf eine Verletzung seines allgemeinen Persönlichkeitsrechts und – mittelbar – auf § 353d Nr. 3 StGB, der die Veröffentlichung amtlicher Dokumente aus Strafverfahren regelt.
Rechtliche Würdigung
Das OLG Hamburg wies die Klage ab und stellte klar, dass kein Unterlassungsanspruch bestehe. Bereits im Ansatz verwarf das Gericht die Anwendbarkeit des § 353d Nr. 3 StGB: Tagebücher seien keine „amtlichen Dokumente“ im Sinne der Vorschrift. Es handele sich um private Aufzeichnungen, die lediglich im Zuge eines Strafverfahrens in die Akten gelangt seien – ein Umstand, der sie nicht in amtliche Dokumente transformiere. Eine Ausdehnung des Schutzbereichs der Vorschrift würde das Bestimmtheitsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG verletzen.
Im Kern jedoch trug das Urteil die Abwägung zwischen dem Persönlichkeitsrecht des Klägers (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) und der Meinungs- und Medienfreiheit der Beklagten (Art. 5 Abs. 1 GG). Zwar erkannte das Gericht an, dass durch die Veröffentlichung in die Vertraulichkeitssphäre des Klägers eingegriffen wurde, da die Zitate auch Rückschlüsse auf seine Denk- und Ausdrucksweise erlaubten. Dennoch überwiege in diesem Fall das Informationsinteresse der Öffentlichkeit.
Ausschlaggebend war, dass die Tagebuchauszüge überwiegend das berufliche Wirken des Klägers betrafen und sich auf potenziell politische Einflussnahmen bezogen, durch die steuerrechtlich relevante Rückforderungen gegenüber seiner Bank möglicherweise verhindert wurden. Die Veröffentlichung diene damit nicht bloß dem Interesse an privater Indiskretion, sondern erfülle eine zentrale Aufklärungs- und Kontrollfunktion in einem demokratischen Gemeinwesen.
Das Gericht ließ sich auch nicht davon beeindrucken, dass die Unterlagen mutmaßlich auf rechtswidrigem Weg an die Presse gelangt waren. Entscheidend sei allein, dass die veröffentlichende Anstalt nicht selbst an der rechtswidrigen Entnahme beteiligt war oder diese veranlasst hatte. Andernfalls – so das Gericht – wäre ein systematisch aufgedecktes Fehlverhalten durch institutionelle Machtträger regelmäßig der Berichterstattung entzogen, obwohl gerade in solchen Fällen ein erhöhtes Öffentlichkeitsinteresse bestehe.
Bewertung und Einordnung
Die Entscheidung des OLG Hamburg reiht sich in eine Tendenz ein, die Bedeutung der Pressefreiheit gegenüber Individualrechten in den Vordergrund zu rücken, wenn es um die Aufdeckung struktureller Missstände geht. Dabei macht das Gericht deutlich, dass auch die wortgetreue Wiedergabe sensibler Dokumente – wie hier Tagebücher – zulässig sein kann, sofern sie eingebettet ist in eine sachbezogene, gesellschaftlich relevante Berichterstattung. Die persönliche Betroffenheit des Klägers tritt in den Hintergrund, wenn die Inhalte im Zusammenhang mit dem Verdacht politisch-ökonomischer Einflussnahme von öffentlichem Belang sind.
Dies entspricht nicht nur den Wertungen des Bundesgerichtshofs, der im Jahr 2023 die Maßstäbe für die Zulässigkeit der Veröffentlichung privater Dokumente im öffentlichen Diskurs neu justiert hat, sondern ist auch folgerichtig angesichts der verfassungsrechtlich garantierten Kontrollfunktion der Medien. Der Schutz vor Berichterstattung endet dort, wo staatliches oder wirtschaftliches Handeln unter dem Verdacht des Machtmissbrauchs steht.
Fazit
Die Veröffentlichung beschlagnahmter Tagebuchauszüge eines Beschuldigten im Cum-Ex-Komplex ist rechtlich zulässig, sofern die Presse keine unlautere Rolle bei deren Erlangung spielte und die Inhalte ein erhebliches öffentliches Interesse berühren. Die Entscheidung des OLG Hamburg ist ein starkes Plädoyer für investigative Berichterstattung in rechtsstaatlich sensiblen Bereichen. Sie zeigt exemplarisch, dass die Abwägung zwischen Persönlichkeitsschutz und Pressefreiheit differenziert erfolgen muss – und dass Transparenz im demokratischen Diskurs keine Nebenrolle spielt, sondern konstitutionellen Kernwert besitzt.
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