Mit Urteil vom 20. Februar 2025 (Az. VII ZR 133/24) hat der Bundesgerichtshof (BGH) eine grundlegende Entscheidung zur Reichweite des Verbraucherwiderrufsrechts getroffen – und dabei klargestellt, dass auch bei kurzfristigen Dienstleistungen mit hohem Zeitdruck das Widerrufsrecht des Verbrauchers nicht durch einen Rückgriff auf § 242 BGB beschränkt werden darf, sofern der Unternehmer seinen gesetzlichen Informationspflichten nicht nachgekommen ist. Die Entscheidung erlangt Bedeutung nicht nur für Verbraucherverträge im technischen Kontext, sondern setzt auch ein klares Signal gegen die Aushöhlung unionsrechtlich fundierter Schutzmechanismen durch richterliche Wertungskorrekturen.
Sachverhalt
Im Zentrum des Rechtsstreits stand ein alltäglicher, gleichwohl juristisch komplexer Vorgang: Nach einer Ölspur auf der Autobahn beauftragte der Beklagte vor Ort die Klägerin mit der Reinigung der Verkehrsfläche. Der Vertrag wurde auf der Straße geschlossen, also außerhalb von Geschäftsräumen im Sinne des Verbraucherrechts. Die Klägerin übergab eine Widerrufsbelehrung, jedoch ohne Hinweis auf das gesetzlich vorgeschriebene Muster-Widerrufsformular. Die Leistung wurde umgehend erbracht. Wochen später widerrief der Beklagte – auf Anraten seines Haftpflichtversicherers – den Vertrag. Die Klägerin klagte auf Werklohn in Höhe von rund 1.975 Euro.
Das Amtsgericht wies die Klage ab, das Landgericht Karlsruhe gab ihr weitgehend statt. Der BGH hob das Berufungsurteil auf und stellte das amtsgerichtliche Urteil wieder her.
Die rechtliche Würdigung
Die Entscheidung des BGH kreist um einen zentralen Konflikt: Kann der Verbraucher sich auch dann auf sein Widerrufsrecht berufen, wenn die Dienstleistung bereits vollständig erbracht wurde und der Unternehmer – trotz formaler Fehler – faktisch keine Möglichkeit mehr hat, sich gegen den Widerruf zu wehren? Die Antwort des Gerichts ist eindeutig: Ja – sofern die gesetzlich normierten Voraussetzungen für ein Erlöschen des Widerrufsrechts nicht erfüllt sind.
Der Senat betont zunächst die strukturelle Bedeutung des Widerrufsrechts. Dieses ist Ausdruck einer bewussten Entscheidung des Gesetzgebers, dem Verbraucher ein einfach auszuübendes Rücktrittsrecht ohne Begründung an die Hand zu geben. Dieses Recht darf nicht durch wertende Eingriffe unterlaufen werden. Zwar erkennt der BGH grundsätzlich an, dass bei treuwidrigem Verhalten ein Widerruf ausgeschlossen sein kann – etwa bei arglistiger Täuschung oder missbräuchlicher Rechtsausübung. Doch ein solcher Ausnahmefall lag hier gerade nicht vor.
Insbesondere sei es unzulässig, den Einwand des Rechtsmissbrauchs allein auf die Dringlichkeit der Reinigungsarbeiten oder auf wirtschaftliche Nachteile für die Klägerin zu stützen. Diese Aspekte seien bereits durch das gesetzliche System antizipiert worden – etwa in § 312g Abs. 2 Nr. 11 BGB, der für dringende Instandhaltungsarbeiten Ausnahmen vorsieht. Wo der Gesetzgeber bewusst keine Ausnahme geregelt habe, dürfe das Gericht keine neue schaffen.
Ebenso entschied der BGH, dass das Widerrufsrecht nicht durch die vollständige Erbringung der Leistung nach § 356 Abs. 4 BGB erloschen war. Denn Voraussetzung hierfür ist eine ordnungsgemäße Widerrufsbelehrung – einschließlich der Aushändigung eines Musters. Da dies unterblieben war, konnte der Beklagte auch noch Wochen später wirksam widerrufen.
Eine relevante Besonderheit der Entscheidung liegt in der Betonung des unionsrechtlichen Kontexts. Das Widerrufsrecht beruht auf der EU-Verbraucherrechterichtlinie und unterliegt dem Effektivitäts- und Äquivalenzprinzip. Das bedeutet, nationale Gerichte dürfen die praktische Wirksamkeit dieser Rechte nicht durch richterliche Wertungseingriffe unterlaufen. Der BGH zieht daraus die Konsequenz, dass selbst ein „kleiner Belehrungsfehler“ nicht bagatellisiert werden darf, wenn die gesetzlich vorgeschriebenen Mindestvorgaben nicht erfüllt sind. Der Unternehmer trägt die Verantwortung für eine ordnungsgemäße Belehrung – tut er dies nicht, muss er die rechtlichen Konsequenzen tragen.
Rechtspolitische Einordnung
Die Entscheidung hat über den Einzelfall hinaus Signalwirkung. Sie erteilt Versuchen eine klare Absage, das Widerrufsrecht durch wertende Argumente strukturell einzuschränken. Das gilt insbesondere für jene Konstellationen, in denen Verbraucherverträge im Rahmen praktischer Notlagen – wie hier bei einer Ölspur – abgeschlossen werden. Zwar mögen Unternehmer im Einzelfall unbillige wirtschaftliche Einbußen erleiden, doch liegt es in ihrer Sphäre, durch rechtssichere Gestaltung dem vorzubeugen. Der Rückgriff auf § 242 BGB darf nicht als Korrektiv für vermeintlich unangemessene Rechtsfolgen fungieren, wo das Gesetz bewusst strikte Anforderungen formuliert hat.
Zugleich bleibt der BGH realistisch: Er verkennt nicht, dass das Widerrufsrecht mitunter taktisch eingesetzt wird. Doch in der konkreten Konstellation lag kein Missbrauch im engeren Sinne vor. Der Widerruf beruhte auf dem rechtlichen Rat eines Versicherers, die Klägerin hatte gegen die Belehrungspflichten verstoßen und sich bewusst für eine Vertragsform mit Verbraucher entschieden. All dies spricht gegen eine übermäßige Schutzbedürftigkeit der Unternehmerin.
Ergebnis
In der Schlussfolgerung lässt sich sagen: Der Bundesgerichtshof bestätigt die Vorrangstellung des gesetzlich normierten Widerrufsrechts gegenüber wertenden Einschränkungen durch die Rechtsprechung. Er schützt den systematischen Aufbau des Verbraucherrechts vor einer Entwertung durch missverstandene Billigkeitserwägungen. Für die Praxis bedeutet dies: Unternehmer, die Verträge mit Verbrauchern außerhalb von Geschäftsräumen schließen, müssen höchste Sorgfalt bei der Belehrung walten lassen – andernfalls riskieren sie nicht nur einen wirksamen Widerruf, sondern auch den Verlust jeglicher Vergütung. Ein kleiner Fehler kann große Folgen haben. Doch das ist keine Härte, sondern Ausdruck gesetzlicher Konsistenz.
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