Das Oberlandesgericht (OLG) Karlsruhe hat mit Urteil vom 4. Februar 2025 (Az. 2 ORs 350 SRs 613/24) eine wichtige Entscheidung zur strafrechtlichen Beurteilung von Straßenblockaden getroffen. Die Frage, ob sich Klimaaktivisten durch Blockaden des Straßenverkehrs strafbar machen, ist seit Jahren Gegenstand intensiver juristischer und gesellschaftlicher Debatten.
Im Zentrum der Entscheidung stand der Tatbestand der Nötigung (§ 240 StGB), insbesondere die Abgrenzung zwischen psychischem und physischem Zwang sowie die verfassungsrechtlich gebotene Abwägung zwischen Versammlungsfreiheit (Art. 8 GG) und den Rechten unbeteiligter Dritter. Das OLG Karlsruhe hob eine Freisprechung des Landgerichts Freiburg auf und bejahte eine Strafbarkeit der Blockierer.
Sachverhalt
Der Angeklagte hatte sich an zwei Straßenblockaden im Stadtgebiet von Freiburg beteiligt. Gemeinsam mit weiteren Aktivisten setzte er sich am 16. und 23. Mai 2022 auf eine Hauptverkehrsstraße, wodurch erhebliche Verkehrsbehinderungen entstanden. Am zweiten Tag klebte er sich zudem an der Fahrbahn fest.
Das Amtsgericht Freiburg hatte ihn wegen Nötigung zu einer Geldstrafe verurteilt. In der Berufungsinstanz sprach ihn das Landgericht Freiburg für die zweite Tat frei, weil eine gebildete Rettungsgasse von Autofahrern theoretisch hätte genutzt werden können. Die Staatsanwaltschaft legte dagegen Revision ein – mit Erfolg.
Rechtliche Kernfragen und Bewertung durch das OLG Karlsruhe
1. Nötigung durch Straßenblockaden – Wann liegt Gewalt vor?
§ 240 StGB setzt für eine Nötigung voraus, dass ein Täter einen anderen Menschen mit Gewalt oder durch Drohung mit einem empfindlichen Übel zu einer Handlung, Duldung oder Unterlassung nötigt. Entscheidend ist dabei die Frage, ob eine Straßenblockade als „Gewalt“ im Sinne des Gesetzes zu werten ist.
a) Physische versus psychische Zwangswirkung
Das OLG Karlsruhe folgt der sogenannten „Zweite-Reihe-Rechtsprechung“, die der Bundesgerichtshof (BGH) und das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) bereits entwickelt haben. Danach liegt Gewalt nicht vor, wenn eine Blockade nur auf psychischer Zwangswirkung beruht – etwa wenn Autofahrer aus Furcht vor Kollisionen anhalten.
Anders ist es jedoch, wenn die Blockade ein physisches Hindernis schafft, das nicht ohne Weiteres überwunden werden kann. Hier bejahte das OLG Karlsruhe Gewalt, weil die Aktivisten durch das bewusste Herbeiführen eines Fahrzeugstaus eine faktische Sperre errichtet hatten.
b) Festkleben als qualifizierendes Merkmal der Gewalt
Besondere Bedeutung maß das Gericht der Tatsache bei, dass sich einige Teilnehmer – darunter der Angeklagte – an der Fahrbahn festklebten. Dadurch sei eine Barriere geschaffen worden, die nur unter erheblichem Aufwand beseitigt werden konnte.
Das OLG Karlsruhe stellte klar, dass diese Form des Protests die Schwelle zur „Gewalt“ überschreitet. Die Blockierer haben sich damit nicht nur auf symbolischen Protest beschränkt, sondern ein materielles Hindernis errichtet, das den Tatbestand der Nötigung erfüllt.
2. Verwerflichkeit der Tat – Grenzen des zivilen Ungehorsams
Neben der Tatbestandsmäßigkeit setzt § 240 StGB voraus, dass die Nötigung „verwerflich“ ist. Dies bedeutet, dass das Mittel (hier: die Blockade) und der Zweck (hier: Klimaschutz) in einem unangemessenen Verhältnis stehen müssen.
Das Landgericht hatte argumentiert, dass eine Rettungsgasse gebildet worden sei und die Autofahrer sich durch Nutzung dieser hätten befreien können. Dies ließ das OLG nicht gelten. Zum einen sei eine Rettungsgasse nicht für den Individualverkehr vorgesehen. Zum anderen ändere dies nichts an der objektiven Verkehrsbehinderung, die bereits mit dem Stillstand der Fahrzeuge eingetreten sei.
Entscheidend war für das OLG zudem, dass die Aktion unangekündigt und auf unbestimmte Zeit angelegt war. Dies spreche gegen eine Abwägung zugunsten der Versammlungsfreiheit. Zwar betonte das Gericht, dass Protest grundsätzlich zulässig sei, jedoch nicht in einer Form, die Rechte Dritter in unzumutbarer Weise beeinträchtigt.
3. Konsequenzen für die Strafzumessung und Gesamtstrafe
Neben der Aufhebung des Teilfreispruchs setzte sich das OLG mit der Bildung einer Gesamtstrafe auseinander. Es wies darauf hin, dass das Landgericht die Anforderungen des § 55 StGB (Zusammenrechnung mehrerer Strafen) nicht vollständig beachtet habe. Die neue Strafkammer muss daher in der Neuverhandlung auch die Gesamtstrafe erneut festlegen.
Bedeutung der Entscheidung
Das Urteil des OLG Karlsruhe fügt sich in die jüngere Rechtsprechung zur strafrechtlichen Einordnung von Straßenblockaden ein. Es bestätigt die Linie der Höchstgerichte, nach der physische Hindernisse als Gewalt zu qualifizieren sind und damit den Tatbestand der Nötigung erfüllen können.
Zugleich macht das Gericht deutlich, dass eine Blockade nicht per se als verwerflich einzustufen ist, sondern dass es auf eine Abwägung im Einzelfall ankommt. Unangekündigte und dauerhafte Störungen, die unbeteiligte Dritte erheblich beeinträchtigen, sind jedoch tendenziell als verwerflich anzusehen.
Für Klimaaktivisten bedeutet diese Rechtsprechung, dass die Schwelle zur Strafbarkeit schnell überschritten wird, insbesondere wenn Protestaktionen gezielt darauf ausgerichtet sind, den Verkehr lahmzulegen und Rettungskräfte zu behindern.
Fazit
Die Entscheidung des OLG Karlsruhe stärkt den Schutz der allgemeinen Bewegungsfreiheit und begrenzt damit zugleich die Möglichkeiten des Protests auf öffentlichen Straßen. Sie zeigt auf, dass Protest nicht schrankenlos ist und das Strafrecht klare Grenzen setzt, wenn ziviler Ungehorsam in physische Gewalt umschlägt.
Gleichzeitig lässt das Urteil Raum für verfassungsrechtliche Abwägungen, insbesondere hinsichtlich der Versammlungsfreiheit. Es bleibt abzuwarten, ob das BVerfG in Zukunft weitere Leitlinien für den Umgang mit solchen Protestformen entwickelt, wobei ich hier skeptisch bin. Fest steht jedenfalls, dass Blockaden mit festgeklebten Aktivisten weiterhin ein hohes Risiko strafrechtlicher Konsequenzen bergen.
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