OLG Celle erkennt Verteidigungsrecht durch Zugang zu Messdaten bei Verkehrsverstößen an : Wie weit reicht das rechtliche Gehör in Bußgeldverfahren wegen Verkehrsverstößen? Diese scheinbar technische Frage war Gegenstand eines aufschlussreichen Beschlusses des Oberlandesgerichts Celle (1 Ss (OWi) 96/16), der weit über das klassische Verkehrsrecht hinausweist. Im Zentrum der Entscheidung steht das fundamentale rechtsstaatliche Prinzip, dass jede Person das Recht auf eine effektive Verteidigung hat – und dazu gehört auch der Zugang zu den technischen Grundlagen des Tatvorwurfs, hier konkret den sogenannten „Rohmessdaten“ bei Geschwindigkeitsmessungen.
Sachverhalt
Der betroffene Autofahrer war vom Amtsgericht Hannover wegen einer fahrlässigen Geschwindigkeitsüberschreitung zu einer Geldbuße von 70 Euro verurteilt worden. Gegen das Urteil legte der Betroffene Rechtsbeschwerde ein und machte insbesondere geltend, ihm sei der Zugang zu den Rohmessdaten der Geschwindigkeitsmessung verwehrt worden. Diese seien notwendig gewesen, um die Korrektheit der Messung durch einen Sachverständigen überprüfen zu lassen. Die Messdaten seien nicht Bestandteil der Verfahrensakte gewesen – ein Umstand, der vom Amtsgericht nicht als Verstoß gegen das rechtliche Gehör gewertet wurde.
Rechtliche Würdigung
Das OLG Celle hingegen sah dies grundlegend anders. Der Senat stellte klar: Bereits das bloße Versagen des Zugangs zu den Rohmessdaten verletzt das rechtliche Gehör gemäß Art. 103 Abs. 1 GG. Es genügt nicht, dass die Daten „nicht Bestandteil der Akte“ sind. Vielmehr sei der Staat verpflichtet, dem Betroffenen auf Antrag Zugang zu sämtlichen für die Verteidigung relevanten Informationen zu gewähren – auch wenn diese extern gespeichert oder gesondert verwaltet werden.
Diese Bewertung gründet auf dem Grundsatz der Waffengleichheit im Ordnungswidrigkeitenverfahren. Der Betroffene muss in die Lage versetzt werden, die gegen ihn erhobenen Vorwürfe kritisch zu überprüfen und gegebenenfalls zu widerlegen. Dazu gehört auch die Möglichkeit, eigene Sachverständigengutachten einzuholen. Wird diese Möglichkeit durch das Vorenthalten der Messgrundlagen faktisch vereitelt, liegt eine erhebliche Beschränkung der Verteidigungsrechte vor.
Bedeutung für die Praxis
Die Entscheidung des OLG Celle ist nicht nur von erheblicher Relevanz für Verteidiger in Verkehrsordnungswidrigkeitenverfahren, sondern hat auch eine übergreifende Bedeutung für das rechtsstaatliche Verständnis des fairen Verfahrens. Gerade in standardisierten Verfahren, in denen technische Geräte automatisch Daten erheben und zu Sanktionen führen, ist Transparenz unerlässlich. Der Betroffene darf nicht auf die bloße Behauptung der Behörde verwiesen werden, die Messung sei korrekt verlaufen. Er hat das Recht, dies nachprüfen zu lassen.
Zudem stärkt der Beschluss die Position der Verteidigung gegenüber einer zunehmend technisierten und bürokratisierten Bußgeldpraxis. Er mahnt eine praxisgerechte, aber verfassungsrechtlich fundierte Handhabung des Akteneinsichtsrechts an und positioniert sich damit klar gegen eine bloß formalistische Betrachtung des Aktenbegriffs.
Fazit
Die Entscheidung des OLG Celle markiert eine wichtige Wegmarke im Umgang mit digitalen Beweismitteln in Massenverfahren des Ordnungswidrigkeitenrechts. Ihre Kernaussage ist eindeutig: Die Verteidigung darf nicht durch technische oder organisatorische Vorwände beschränkt werden. Der Zugang zu Rohmessdaten ist ein integraler Bestandteil des rechtlichen Gehörs. Wer diesen verwehrt, stellt nicht nur die Verfahrensgerechtigkeit in Frage – sondern riskiert die Rechtskraft des gesamten Verfahrens.
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