Gerade erst hatte der Bundesgerichtshof nochmals klargestellt, dass eine Fortsetzung der Hauptverhandlung auch vorliegen kann, wenn reine Verfahrensfragen erörtert werden. Nun legt der 6. Senat mit einer Leitsatzentscheidung nach, die aufhorchen lässt:
Auch wenn in einem Termin zur Fortsetzung der Hauptverhandlung Verfahrensvorgänge stattfinden, die als Sachverhandlung anzusehen sind, verstößt es gegen § 229 StPO, wenn aus dem gesamten Verfahrensgang erkennbar wird, dass das Gericht mit der Verhandlung nicht die substantielle Förderung des Verfahrens bezweckt, sondern allein die Wahrung der Unterbrechungsfrist im Auge hat.
BGH, 6 StR 95/22
Die Rechtsprechung dahinter ist nicht in Gänze neu, der bei Landgericht zugrunde liegende Sachverhalt ist äußerst speziell – doch die Gerichte sind gut beraten, hier sehr genau hinzusehen.
Ablauf beim Landgericht
Für Details sollte die Entscheidung aufgerufen werden – zusammenfassend lässt sich dieser Abschnitt wiedergeben:
Gegenstand der Hauptverhandlung in den Jahren 2018, 2019 und 2020 war im Wesentlichen die Erörterung des Verfahrensstandes in Bezug auf die am 21. Dezember 2017 veranlassten weiteren Ermittlungen des Hauptzollamts.
Häufig wurden Verfügungen des Vorsitzenden verlesen, die sich an die Staatsanwaltschaft richteten und Ermittlungsaufträge enthielten. Das Landgericht machte regelmäßig von der Möglichkeit Gebrauch, die Hauptverhandlung gemäß § 229 Abs. 1 und 2 StPO bis zu drei Wochen bzw. einem Monat zu unterbrechen.
Infolgedessen fand diese im Jahr 2018 lediglich an 19 Tagen, im Jahr 2019 an 17 Tagen und im Jahr 2020 an 16 Tagen statt, wobei zumeist nur wenige Minuten lang verhandelt wurde. Insgesamt belief sich die Dauer der Hauptverhandlung im Jahr 2018 auf siebeneinhalb, im Jahr 2019 auf fünfeinhalb und im Jahr 2020 auf sechseinhalb Stunden.
Insgesamt wird auf fast 10 (sehr lesenswerten) Seiten dargelegt, wie sich der Prozess entwickelt hat, was teilweise veranlasst wurde und was geschehen ist. Dabei zeigt sich, dass ein erheblicher Teil der Ermittlungen wohl erst während des Hauptverfahrens stattgefunden hat, das man wohl nicht unterbrechen konnte oder wollte.
Verfahrenspraxis auf dem Prüfstand
Rechtlich ist es nichts Neues, was der 6. Senat da zusammenfasst: Auch wenn in einem Termin Verfahrensvorgänge stattfinden, die grundsätzlich zur Unterbrechung der Fristen des § 229 StPO geeignet sind, liegt ein Verhandeln zur Sache nicht vor, wenn das Gericht nur der äußeren Form nach zum Zwecke der Umgehung dieser Vorschrift tätig wird und der Gesichtspunkt der Verfahrensförderung dahinter als bedeutungslos zurücktritt:
So verhält es sich etwa dann, wenn einheitliche Verfahrensvorgänge willkürlich in mehrere kurze Verfahrensabschnitte zerstückelt und diese auf mehrere Verhandlungstage verteilt werden, um dadurch die zulässigen Unterbrechungsfristen einzuhalten (…).
Aus demselben Grunde verstößt es gegen § 229 StPO, wenn aus dem gesamten Verfahrensgang erkennbar wird, dass das Gericht mit der Verhandlung nicht die substantielle Förderung des Verfahrens bezweckt, sondern allein die Wahrung der Unterbrechungsfrist im Auge hat (…).
BGH, 6 StR 95/22
Man muss betonen, dass sich diese Ausführungen in der BGH-Rechtsprechung längst wiederfinden. Die Subsumtion des BGH macht aber deutlich, dass das keine Floskeln sind.
Konkrete Aspekte, die gegen eine Verfahrensförderung sprechen
Dass es hier um einen extremen Sonderfall geht, macht deutlich, dass der BGH feststellt, dass das LG die Verhandlung zeitlich dermaßen gestreckt hat, dass die jährliche Verhandlungsdauer kaum über diejenige eines einzigen gewöhnlichen Sitzungstages hinausging. Das darf man durchaus als krassen Sonderfall bezeichnen, der sich pointiert wie folgt liest:
Im Jahr 2018 verhandelte das Landgericht – verteilt auf 19 Sit- zungstage – insgesamt nur siebeneinhalb Stunden, und in den Jahren 2019 und 2020 war die gesamte Verhandlungsdauer mit fünfeinhalb bzw. sechseinhalb Stunden noch kürzer, verteilt auf 17 bzw. 16 Tage.
BGH, 6 StR 95/22
Doch der BGH belässt es nicht dabei, obwohl dies alleine schon sehr gewichtig in der Würdigung ist. Sondern er geht auf einzelne Aspekte (Rn. 34ff) ein, die ich insgesamt wie Folgt zusammenfassen möchte:
- Der BGH nimmt im Zweifelsfall eine Gesamtbetrachtung von Sitzungstagen und Sitzungsdauer vor. Abgesehen vom vorliegenden krassen Einzelfall sollte man also vorsichtig sein, wenn sich Sprungtermine mit nur wenigen Minuten dauer anfangen zu häufen. Im Umkehrschluss sollte das gerne praktizierte Prozedere dahin, dass ein einzelner Sprungtermin zu dem die BZR verlesen werden, keinem erheblichen Risiko ausgesetzt sein.
- Kritisch wirkt sich aus, wenn Gegenstand der Verhandlung zumeist der Stand der Dinge betreffend außerhalb der Hauptverhandlung stattfindender Vorgänge sind – selbst wenn es Beweismittelbeschaffungen sind (hier: Angeklagter erstellt Buchhaltungsunterlagen)
- Sehr kritisch wirkt es sich aus, wenn als Verfahrensgegenstand alleine die Bekanntgabe von zwar verfahrensbezogenen Verfügungen im Raum steht – die aber außerhalb der Hauptverhandlung ergingen und ebenso gut außerhalb der Hauptverhandlung bekannt gemacht werden können.
- Besonders aufmerksam muss es machen, wenn man bemerkt, dass der BGH inhaltlich prüft, wann etwas eingeführt wurde: Ausdrücklich kritisch gewürdigt wird es, wenn ausschließlich Urkunden verlesen werden, die problemlos deutlich früher in die Hauptverhandlung hätten eingeführt werden können. Der BGH wertet in eigener Anschauung, ob kein anderer Grund erkennbar ist als derjenige, dass die Verlesung allein dazu dient, den Schein einer Verfahrensförderung zu wahren. Hier liegt nunmehr ein beträchtliches Risiko für Instanzgerichte.
- Ebenfalls besonders kritisch ist es, dass die Anordnung eines Selbstleseverfahrens vom BGH, auf dessen Sinnhaftigkeit voll inhaltlich überprüft wird (man beachte die Ausführungen bei Rn. 36).
Schlüsse aus der BGH-Entscheidung zu §229 StPO
Auf den ersten Blick geht es um gefestigte rechtliche Aspekte und einen krassen Einzelfall. Auf den zweiten Blick erschließt sich, siehe die Liste oben, dass der BGH eine klare Ansage an die Gerichte gibt: Es wird inhaltlich voll überprüft, wie sinnvoll bzw. aus Sicht des BGH nachvollziehbar die einzelnen Verfahrenshandlungen waren.
Der Rückschluss hieraus ist durchaus interessant: Gerichte sollten sich hüten, erst in Hauptverhandlungen die Ermittlungen zu führen, die man (zeitintensiv) im Ermittlungsverfahren führen müsste. Verfrühte Anklagen und voreilige Eröffnungsbeschlüsse können in genau die Falle führen, die der BGH hier aufzeigt – die Notwendigkeit, die Hauptverhandlung künstlich zu strecken, um zuvor verschlafene Beweismittel vernünftig zu erheben. Mit der vorliegenden Entscheidung besteht ein erhebliches Risiko, den Boden des §229 StPO in dem Zuge (unbemerkt) zu verlassen.
Andersherum kann wohl konstatiert werden: Jedenfalls wenn es nur einen Sprungtermin gibt und hier wie üblich BZR oder sonstige Urkunden in kurzer Zeit verlesen werden, dürfte sich kein Gesamtbild ergeben, an das der BGH anknüpfen kann. Dieses verbreitete Prozedere dürfte weiterhin unangetastet bleiben.
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