Die strafrechtliche Vermögensabschöpfung hat sich in den vergangenen Jahren zu einem zentralen Instrument der Kriminalitätsbekämpfung entwickelt – insbesondere durch die Reform von 2017, die die Einziehung von Vermögenswerten weitgehend von einer strafrechtlichen Verurteilung des Betroffenen entkoppelt hat. In diesem Kontext gewinnt § 76a Abs. 4 StGB zunehmende praktische Relevanz: Die Vorschrift erlaubt die selbstständige erweiterte Einziehung auch gegenüber unbeteiligten Dritten.
Der Bundesgerichtshof hat in seinem Urteil vom 4. Juni 2025 (5 StR 622/24) nun klargestellt, dass bei dieser Form der Einziehung eine umfassende und differenzierte Verhältnismäßigkeitsprüfung unerlässlich ist – auch und gerade dann, wenn ein gutgläubiger Dritter betroffen ist. Die Entscheidung erteilt pauschalen Maßstäben eine Absage und fordert stattdessen eine sorgfältige Einzelfallbewertung.
Sachverhalt
Dem Urteil lag ein selbstständiges Einziehungsverfahren zugrunde, das aus einem ursprünglich gegen den Einziehungsbeteiligten geführten Geldwäscheverfahren hervorging. Im Zentrum stand ein Miteigentumsanteil an einer Immobilie in Berlin, deren Erwerb mutmaßlich mit deliktisch erlangten Mitteln finanziert worden war. Nach mehreren Übertragungen – zuletzt an den Nebenbetroffenen – wollte die Staatsanwaltschaft den Vermögenswert nach § 76a Abs. 4 StGB einziehen lassen. Das Landgericht Berlin hatte den Antrag abgelehnt. Zwar lägen die tatbestandlichen Voraussetzungen der Vorschrift vor; der Nebenbetroffene habe die Immobilie jedoch gutgläubig und entgeltlich erworben, weshalb eine Einziehung unverhältnismäßig sei. Gegen diese Entscheidung legte die Staatsanwaltschaft Revision ein – mit Erfolg.
Rechtliche Analyse
Tatbestandliche Voraussetzungen: Einziehung zulässig
Zunächst bestätigt der BGH die Auffassung des Landgerichts, dass die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 76a Abs. 4 StGB erfüllt seien. Die Immobilie sei im Sinne der Vorschrift aus einer Katalogtat herrührend sichergestellt worden, wobei es unerheblich sei, dass keine strafrechtliche Verurteilung erfolgt sei. Der Verdacht einer Vortat reiche aus, sofern die Sicherstellung innerhalb des maßgeblichen Zeitraums von 30 Jahren erfolgt sei.
Auch die rechtliche Würdigung, dass der Nebenbetroffene trotz nachträglicher Beschlagnahme wirksam Eigentum an der Immobilie erlangt habe, wurde vom BGH nicht beanstandet. Die im Grundbuch eingetragene Auflassungsvormerkung wirkte zugunsten des Erwerbers und schützte ihn selbst gegenüber der später erfolgten Sicherstellung. Damit wurde der Vorrang sachenrechtlicher Positionen gegenüber staatlichen Zugriffsbefugnissen bekräftigt – eine wichtige Klarstellung zur insolvenz- und vollstreckungsrechtlichen Stellung von Vormerkungen.
Rechtsfolgen: Keine schematische Ausnahme durch Gutgläubigkeit
Entscheidend – und in der praktischen Konsequenz bedeutsam – ist jedoch die Korrektur durch den BGH im Hinblick auf die verfassungsrechtlich gebotene Verhältnismäßigkeitsprüfung. Das Landgericht hatte seine Ermessensentscheidung im Wesentlichen auf die Gutgläubigkeit des Nebenbetroffenen gestützt und daraus geschlossen, dass die Einziehung ausgeschlossen sei. Diese Argumentation greift nach Auffassung des Senats zu kurz.
Der BGH stellt klar, dass § 76a Abs. 4 StGB als gebundene Ermessensnorm („soll“) eine Einziehung im Regelfall vorsieht. Ein Absehen von der Maßnahme ist nur bei Unverhältnismäßigkeit zulässig – wobei sich die Verhältnismäßigkeit nicht pauschal aus dem Vorliegen eines sogenannten „Erfüllungsfalls“ ergeben darf. Die Vorstellung, ein gutgläubiger Erwerb in Erfüllung einer wirksamen Forderung stehe einer Einziehung stets entgegen, sei mit dem Normzweck nicht vereinbar. Die Bewertung hat vielmehr anhand aller relevanten Umstände des Einzelfalls zu erfolgen.
Maßstab: Schutzwürdigkeit und Einzelfallbetrachtung
Ausgehend von der Rechtsprechung des EGMR und den gesetzgeberischen Motiven verlangt der BGH eine Gesamtwürdigung aller maßgeblichen Aspekte, insbesondere:
- das Maß der Bösgläubigkeit oder Sorgfalt des Erwerbers,
- das wirtschaftliche Umfeld der Transaktion,
- ungewöhnliche Umstände wie Barzahlung, fehlende Absicherung oder besonders niedriger Kaufpreis,
- das Alter und die Vorbelastungen der Beteiligten,
- sowie – nicht zuletzt – die Herkunft der für den Erwerb aufgewendeten Mittel.
Diese Faktoren habe das Landgericht nicht mit der gebotenen Tiefe gewürdigt. Es fehlte bereits an einer tragfähigen Beweiswürdigung zur Frage, ob dem Nebenbetroffenen die deliktische Herkunft der Immobilie nicht doch bekannt gewesen sein könnte. Auch habe das Gericht es versäumt, die kumulative Wirkung mehrerer Verdachtsmomente zu gewichten: etwa die ungewöhnlich frühe Barzahlung, das junge Alter der Vertragspartner, die langjährige Nichtnutzung der Immobilie sowie die Tatsache, dass der Erwerber in kurzer Zeit mehrere hochpreisige Objekte erwarb, deren Finanzierung bei Betrachtung seiner deklarierten Einkünfte zumindest erklärungsbedürftig war.
Der BGH fordert damit nicht nur eine vertiefte Sachverhaltsaufklärung, sondern auch eine normative Gesamtbetrachtung der Schutzwürdigkeit. Die bloße Feststellung formaler Gutgläubigkeit reicht nicht aus, um von einer Einziehung abzusehen.

In ihrer Konsequenz verpflichtet die Entscheidung die Instanzgerichte dazu, Einziehungsentscheidungen differenziert zu begründen und sich mit der tatsächlichen sowie normativen Stellung des Erwerbers umfassend auseinanderzusetzen. Für die Praxis bedeutet dies: Die Einziehung von Vermögenswerten Dritter bleibt möglich, setzt aber eine sorgfältige richterliche Abwägung voraus – eine Einziehung „automatisch“ im Lichte der Vermögensherkunft oder eine „Immunisierung“ durch bloße Gutgläubigkeit wird es nicht geben. Eine überzeugende und überfällige Klarstellung.
Schlussfolgerung
Mit seinem Urteil vom 4. Juni 2025 verleiht der BGH der Verhältnismäßigkeitsprüfung nach § 76a Abs. 4 StGB ein neues Maß an inhaltlicher Substanz. Die Entscheidung betont, dass die Vermögensabschöpfung ein gravierender Eingriff in das Eigentumsrecht ist und daher nicht auf formalisierte Kriterien wie Gutgläubigkeit oder Kaufpreiszahlung reduziert werden darf. Maßgeblich ist vielmehr die Gesamtschau aller Umstände, insbesondere der Grad der Schutzwürdigkeit des Dritterwerbers.
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