OLG Bremen zur Unzulässigkeit der Auslieferung eines Verfolgten nach Ungarn

Die Kooperation der Mitgliedstaaten der Europäischen Union bei der Strafverfolgung ist auf Effizienz angelegt – der Europäische Haftbefehl bildet hierfür ein zentrales Instrument. Zugleich ist die Auslieferung einer Person ein Eingriff von erheblichem Gewicht, der sich an rechtsstaatlichen und menschenrechtlichen Maßstäben messen lassen muss. In diesem Spannungsverhältnis bewegt sich ein aktueller Beschluss des OLG Bremen (1 OAus 20/24).

Das Gericht erklärt darin die Auslieferung eines in Deutschland festgenommenen Verfolgten an Ungarn für zulässig – und dies trotz fortbestehender Anhaltspunkte für systemische Mängel in ungarischen Haftanstalten. Die Entscheidung fügt sich in die fortlaufende rechtliche Auseinandersetzung um die Frage ein, wie weit Vertrauen in die Justizsysteme anderer EU-Staaten reichen darf, wenn zugleich menschenrechtliche Risiken im Raum stehen.

Sachverhalt

Der in Deutschland aufgegriffene Verfolgte war durch das Bezirksgericht Nyíregyháza in Ungarn in Abwesenheit zu sechs Monaten Freiheitsstrafe verurteilt worden. Der Schuldspruch stützte sich auf einen Verstoß gegen ein zuvor verhängtes Fahrverbot. Die ungarischen Behörden beantragten auf Grundlage eines Europäischen Haftbefehls die Auslieferung des Mannes. Dieser erklärte sich nicht mit einer vereinfachten Auslieferung einverstanden, sodass das OLG Bremen über die Zulässigkeit der Überstellung zu befinden hatte. Im Mittelpunkt stand dabei insbesondere die Frage, ob dem Verfolgten in ungarischen Haftanstalten unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 GRCh droht.

Rechtliche Würdigung

Maßstab der Auslieferungsprüfung: Zwei-Stufen-Modell

Die Entscheidung steht dogmatisch im Kontext der vom EuGH (Aranyosi/Căldăraru, Dorobantu, ML) und dem EGMR (insb. Varga u.a. v. Ungarn, Muršić v. Kroatien) entwickelten Prüfungsmaßstäbe zur Auslieferung trotz menschenrechtlicher Risiken. Nach ständiger Rechtsprechung sind die Gerichte des ersuchten Staates verpflichtet, bei ernsthaften Hinweisen auf systemische oder allgemeine Missstände im Strafvollzug des ersuchenden Staates konkret zu prüfen, ob die betreffende Person einem realen Risiko unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung ausgesetzt sein wird. Dies verlangt insbesondere eine einzelfallbezogene Bewertung der Haftbedingungen in den konkret betroffenen Anstalten.

Feststellungen zur Situation in Ungarn

Das OLG Bremen konstatiert fortbestehende Anhaltspunkte für strukturelle Defizite im ungarischen Strafvollzug – insbesondere hinsichtlich hygienischer Standards, der Versorgungslage und vereinzelter Gewaltvorfälle. Der Senat verweist hierbei auf Berichte des CPT und des Hungarian Helsinki Committee, die unter anderem gravierende Missstände in der Haftanstalt Tiszalök dokumentieren. Gleichwohl stellt das Gericht klar, dass diese Defizite nicht zwingend flächendeckend vorliegen und daher nicht ohne Weiteres auf alle Haftanstalten übertragen werden dürfen.

Entscheidend war daher, ob der Verfolgte in eine konkrete Haftanstalt mit unbedenklichen Bedingungen überstellt wird. Das ungarische Justizministerium hatte – nach Nachforderung durch das OLG – benannt, dass die Haft in der JVA S. verbüßt werden solle, wobei eine kurzfristige Erstunterbringung in der Haftanstalt B. erfolgen werde. Für beide Einrichtungen lagen dem Senat bereits aus früheren Verfahren belastbare Informationen über die konkreten Bedingungen vor, die nach Einschätzung des Gerichts eine Verletzung von Art. 4 GRCh ausschließen. Maßgeblich war insbesondere die Einhaltung der durch den EGMR aufgestellten Mindestanforderungen an die Zellenfläche pro Person, eine ausreichende hygienische Versorgung sowie Schutzmechanismen gegen Gewalt.

Abgrenzung zu anderen obergerichtlichen Entscheidungen

Bemerkenswert ist die Abweichung des OLG Bremen von jüngeren Entscheidungen anderer Oberlandesgerichte, insbesondere des OLG Celle und des OLG Brandenburg, die auch allgemeine, nicht-anstaltsbezogene Zusicherungen ungarischer Behörden für ausreichend hielten. Der Senat in Bremen hält daran ausdrücklich nicht fest und verlangt – zu Recht – eine anstaltsspezifische Prüfung unter Angabe der konkreten Haftbedingungen. Nur so lasse sich die geforderte Gefahrenprognose mit hinreichender Tatsachengrundlage unterlegen.

Keine Bewilligungshindernisse

Schließlich prüft das Gericht zutreffend, ob die Generalstaatsanwaltschaft Bremen bei ihrer Erklärung, keine Bewilligungshindernisse geltend zu machen, ihr Ermessen fehlerfrei ausgeübt hat (§ 83b IRG). Da der Verfolgte keinen gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland hatte und keine hinreichenden Bindungen zu erkennen waren, verneint der Senat das Vorliegen eines solchen Bewilligungshindernisses nachvollziehbar.

Schlussfolgerung

Die Entscheidung des OLG Bremen überzeugt im Kern, wird aber Fragen auf: Sie belegt, dass Auslieferung auf Basis des Europäischen Haftbefehls keineswegs als Automatismus zu verstehen ist, sondern eine einzelfallbezogene Risikoabwägung verlangt. Besonders hervorzuheben ist der Standpunkt des Senats, dass bloße allgemeine Zusicherungen des ersuchenden Staates nicht genügen dürfen, wenn Hinweise auf strukturelle Defizite vorliegen – ein Standpunkt, der nicht nur rechtsdogmatisch, sondern auch menschenrechtlich geboten erscheint. Allerdings ist spätestens seit dem Fall Maja T. doch wohl auf der Hand liegend, dass man auf rechtsstaatliche Grundsätze – und damit auch Zusagen – in Ungarn nichts geben kann; dass die Justiz sich hier derart willfährig zeigt, verdeutlicht aus hiesiger Sicht, wie wenig man erwarten darf.

Gleichwohl verdeutlicht der Fall zumindest, dass das Vertrauen in den ungarischen Strafvollzug weiterhin nur unter Bedingungen tragfähig ist. Die künftige Handhabung von Auslieferungen in vergleichbaren Fällen dürfte maßgeblich davon abhängen, inwieweit die ungarischen Behörden willens und in der Lage sind, gerichtsfeste und konkretisierte Informationen zu liefern. Das OLG Bremen setzt hierfür einen wichtigen Maßstab.

Fachanwalt für Strafrecht & IT-Recht bei Anwaltskanzlei Ferner Alsdorf
Rechtsanwalt Jens Ferner ist Spezialist für Strafverteidigung (insbesondere bei Wirtschaftskriminalität wie Geldwäsche, Betrug bis zu Cybercrime) sowie für IT-Recht (Softwarerecht und KI, IT-Vertragsrecht und Compliance) mit zahlreichen Publikationen. Als Fachanwalt für Strafrecht und IT-Recht vertrete ich Mandanten in komplexen Zivil- und Strafverfahren, insbesondere bei streitigen Fragen im Softwarerecht, bei der Abwehr von strafrechtlichen Vorwürfen oder Ansprüchen in der Managerhaftung sowie bei der Einziehung von Vermögenswerten. Mein Fokus liegt auf der Schnittstelle zwischen technischem Verständnis und juristischer Strategie, um Sie in digitalen Fällen und wirtschaftlichen Strafsachen effektiv zu verteidigen und zu beraten.

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Unsere Anwaltskanzlei ist spezialisiert auf Strafverteidigung, Cybercrime, Wirtschaftsstrafrecht samt Steuerstrafrecht sowie IT-Recht und Managerhaftung. Von Verbrauchern werden allein Strafverteidigungen übernommen - wir sind im Raum Aachen zu finden und bundesweit tätig.
Rechtsanwalt Jens Ferner
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Von Rechtsanwalt Jens Ferner

Rechtsanwalt Jens Ferner ist Spezialist für Strafverteidigung (insbesondere bei Wirtschaftskriminalität wie Geldwäsche, Betrug bis zu Cybercrime) sowie für IT-Recht (Softwarerecht und KI, IT-Vertragsrecht und Compliance) mit zahlreichen Publikationen. Als Fachanwalt für Strafrecht und IT-Recht vertrete ich Mandanten in komplexen Zivil- und Strafverfahren, insbesondere bei streitigen Fragen im Softwarerecht, bei der Abwehr von strafrechtlichen Vorwürfen oder Ansprüchen in der Managerhaftung sowie bei der Einziehung von Vermögenswerten. Mein Fokus liegt auf der Schnittstelle zwischen technischem Verständnis und juristischer Strategie, um Sie in digitalen Fällen und wirtschaftlichen Strafsachen effektiv zu verteidigen und zu beraten.

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