Mit Urteil vom 12. März 2025 (Az. 5 StR 576/24) hat der Bundesgerichtshof eine Entscheidung getroffen, die die subtilen, aber rechtsstaatlich bedeutsamen Unterschiede zwischen einem formell vereinbarten Verständigungsverfahren und einer bloß informellen Abstimmung im Strafprozess aufzeigt. Der Fall verdeutlicht, wie sorgfältig Gerichte den schmalen Grat zwischen zulässiger Prognoseäußerung und unzulässiger Selbstbindung bei der Strafzumessung wahren müssen – insbesondere, wenn ein Urteil sich später mit einer im Vorfeld genannten Strafe deckt.
Ausgangspunkt: Eine „Verständigung ohne Verständigung“
Der Angeklagte war wegen mehrfachen schweren sexuellen Missbrauchs seiner Tochter und weiterer sexueller Übergriffe zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt worden. Die Strafkammer hatte in einem frühen Stadium des Prozesses im Rahmen eines sogenannten „Rechtsgesprächs“ eine Strafe in dieser Höhe als im Falle eines Geständnisses denkbar bezeichnet. Eine förmliche Verständigung nach § 257c StPO kam jedoch nicht zustande. Dennoch gestand der Angeklagte später – und das Gericht verhängte die exakt zuvor genannte Strafe. Die Staatsanwaltschaft sah darin eine unzulässige „informelle Verständigung“ und rügte unter anderem eine Verletzung der Vorschriften über die gesetzlich geregelte Verständigung und das Verbot der Selbstbindung.
Die rechtliche Bewertung des BGH
Der Bundesgerichtshof wies die Revision der Staatsanwaltschaft mit klarer Argumentation zurück. Entscheidend sei nicht, ob die verhängte Strafe mit einem zuvor geäußerten Wert übereinstimmt, sondern ob sich das Gericht rechtlich bindet oder faktisch gebunden fühlt – ohne, dass dies den gesetzlichen Vorgaben einer Verständigung entspricht. Das alleinige Verharren in einem gedanklichen Strafrahmen mache noch keine Verständigung aus. Eine solche bedürfe der ausdrücklichen Zustimmung aller Beteiligten und der Erfüllung klarer Verfahrensregeln, einschließlich Dokumentation und Belehrung.
Im konkreten Fall war die vom Gericht geäußerte Einschätzung – vier Jahre im Falle eines Geständnisses – als Teil eines offenen Meinungsaustauschs zu werten. Sie wurde weder als verbindliche Zusage formuliert, noch mit dem Charakter einer verfahrensabschließenden Absprache versehen. Auch der Umstand, dass das Gericht in seinen Erwägungen auf frühere, vergleichbare Fälle verwies, wurde nicht als Verstoß gegen das Legalitätsprinzip gewertet. Vielmehr erkannte der Senat darin eine legitime Orientierungshilfe zur Herleitung eines vertretbaren Strafmaßes, das sich im Spektrum vergleichbarer Sachverhalte bewegte.
Wesentlich war aus Sicht des Gerichts auch, dass sich die Beteiligten – inklusive der Staatsanwaltschaft – weiterhin in der Argumentation bewegten, die eine offene Hauptverhandlung zulässt: Die Staatsanwältin beantragte eine höhere, der Verteidiger eine niedrigere Strafe, und das Gericht wählte eine Lösung dazwischen. Dies spricht gegen eine unzulässige Selbstbindung und für eine autonome Strafzumessung auf Basis des gesamten Verfahrensverlaufs.
Rechtspolitische und praktische Relevanz
Diese Entscheidung stärkt die Differenzierung zwischen informellem Rechtsgespräch und förmlicher Verständigung. Gerade in sensiblen Strafverfahren, in denen die Motivation zu einem Geständnis von der Aussicht auf eine mildere Strafe beeinflusst wird, ist die Trennlinie zwischen zulässiger Kommunikation und unzulässigem Druck fein, aber wichtig. Der BGH macht deutlich, dass ein Gericht zwar Wertvorstellungen äußern darf, sich aber nicht faktisch selbst fesseln darf – und dass ein Angeklagter, der sich auf bloße Signale verlässt, kein geschütztes Vertrauen im Sinne des § 257c Abs. 4 Satz 3 StPO entwickeln kann.
Auch betont der Senat, dass sich ein Gericht an eine einmal geäußerte Strafvorstellung nicht halten muss – wohl aber darf, wenn sich im Laufe der Hauptverhandlung keine neuen Aspekte ergeben. Dies ist keine Selbstbindung, sondern eine Folge konsistenter Würdigung.
Fazit
Die Kernaussage dieses Urteils lautet: Ein Gericht darf sich nicht informell binden, wohl aber darf es offen über Strafrahmen sprechen – solange es nicht den Anschein einer verfahrensabschließenden Vereinbarung erweckt. Der BGH stärkt damit die prozessuale Transparenz und das Vertrauen in eine offene, aber rechtsstaatlich kontrollierte Hauptverhandlung. Für die Praxis bedeutet das: Gerichte dürfen Orientierung geben – müssen aber jederzeit deutlich machen, dass die Entscheidung dem Verfahren und nicht einem Deal folgt.
- Die Einziehung von Taterträgen beim untauglichen Versuch - 22. Mai 2025
- Russische Cyberangriffe auf westliche Logistik- und Technologieunternehmen 2025 - 22. Mai 2025
- Keine Schweigepflicht im Maßregelvollzug - 21. Mai 2025