In einem wirklich beachtlichen Urteil vom 11. Oktober 2024 (Az. 704 NBs 41/24) hat das Landgericht Hamburg die Berufung der Staatsanwaltschaft gegen einen Freispruch vom Vorwurf der Verletzung von Privatgeheimnissen gemäß § 203 StGB verworfen. Im Zentrum stand die Frage, ob ein Rechtsanwalt, der im Rahmen der Strafverteidigung eine ungeschwärzte psychologische Stellungnahme an einen externen Sachverständigen weiterleitet, strafbar handelt – oder ob dies durch die Verfahrensrechte und die datenschutzrechtliche Zweckbindung im Strafprozess gedeckt ist.
Die Entscheidung bewegt sich damit an der Schnittstelle von Strafverfahrensrecht, Datenschutz und anwaltlicher Berufsausübung – und ist vor allem Bemerkenswert, weil man hieran erkennt, was deutsche Staatsanwälte alles verfolgen (und wie wenig gespür man für die Rechte von Angeklagten hat).
Der Sachverhalt
Der Angeklagte war als Verteidiger in einem Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts eines Sexualdelikts gegen ein Kind tätig. Ihm wurde von der Staatsanwaltschaft eine aussagepsychologische Stellungnahme überlassen, die unter anderem den vollständigen Namen und das Geburtsdatum des mutmaßlichen kindlichen Opfers enthielt. Der Verteidiger zweifelte an der Methodik der Stellungnahme und leitete das Dokument in ungeschwärzter Form an einen anerkannten externen Sachverständigen weiter, um eine eigene fachliche Einschätzung zu erhalten. Die Staatsanwaltschaft sah hierin eine unbefugte Offenbarung von Privatgeheimnissen und klagte den Verteidiger wegen § 203 StGB an.
Juristische Würdigung
Zwar erkannte das Landgericht Hamburg, dass der Verteidiger tatbestandsmäßig gehandelt habe, da die Weitergabe der sensiblen Informationen an eine externe Person grundsätzlich den objektiven Tatbestand des § 203 Abs. 1 Satz 1 StGB erfülle. Entgegen der Auffassung des Amtsgerichts sei der externe Gutachter nicht als „berufsmäßiger Gehilfe“ im Sinne der Norm anzusehen, da er weder organisatorisch noch dauerhaft in den Kanzleibetrieb eingebunden war. Dennoch verneinte das Landgericht die Rechtswidrigkeit der Weitergabe – und damit auch die Strafbarkeit.
Maßgeblich für die Bewertung war § 32f Abs. 5 Satz 2 StPO. Diese Vorschrift erlaubt die Nutzung personenbezogener Daten aus Akten, die einem Verteidiger im Rahmen der Akteneinsicht überlassen wurden, ausdrücklich für den Zweck, zu dem die Einsicht gewährt wurde – nämlich die effektive Verteidigung. Dabei genügt es, dass die Weitergabe an Dritte im Rahmen einer pflichtgemäßen Ermessensausübung durch den Verteidiger als zweckdienlich erscheint. Entscheidend ist nicht, ob die Offenbarung streng erforderlich oder alternativlos war, sondern ob sie im Lichte der Verteidigungsstrategie plausibel und verhältnismäßig erscheint.
Im vorliegenden Fall bejahte die Kammer diese Voraussetzungen. Der Verteidiger hatte mit dem renommierten Aussagepsychologen nicht nur einen sachkundigen, sondern auch zur Verschwiegenheit verpflichteten Experten betraut. Zudem diente die Weitergabe der Vorbereitung einer gerichtsfesten Gegenexpertise und war unmittelbar auf die Überprüfung einer belastenden Zeugenaussage gerichtet. Angesichts der Sensibilität des Ausgangsverfahrens – einem Sexualdelikt gegen ein Kind – sei das Vorgehen nicht nur nachvollziehbar, sondern möglicherweise sogar geboten gewesen. Der Umstand, dass der Verteidiger auf eine Schwärzung der personenbezogenen Daten verzichtete, sei kein ausreichendes Indiz für ein pflichtwidriges Verhalten. Vielmehr habe er die Datenverwendung im Rahmen der gesetzlichen Zweckbindung rechtmäßig vorgenommen:
Der Angeklagte hat damit zwar tatbestandsmäßig, jedoch nicht rechtswidrig gehandelt, da sich Befugnisse zum Offenbaren von Geheimnissen bzw. Einzeldaten aus einfachgesetzlichen Regelungen ergeben können und solche hier einschlägig sind. Erfolgt nämlich die Mitteilung /Weitergabe aufgrund einer gesetzlichen Vorgabe ist das darin liegende Offenbaren als rechtmäßig einzuordnen und das Handeln damit nicht “unbefugt” im Sinne des § 203 StGB Abs. 1 S. 1 StGB, wobei sich vorliegend eine eindeutige Grundlage für ein Offenbarungsrecht aus der besonderen gesetzlichen Bestimmung des § 32f Abs. 5 S. 2 StPO, das qualifizierte Mitteilungspflichten und Auskunftsrechte enthält, ergibt. § 32f Abs. 5 S. 1 StPO normiert dabei eine datenschutzrechtliche Zweckbindung dergestalt, dass grundsätzlich Akten, Dokumente, Ausdrucke oder Abschriften, die im Rahmen einer Akteneinsicht überlassen wurden, weder ganz oder teilweise verbreitet werden noch Dritten zu verfahrensfremden Zwecken übermittelt oder zugänglich gemacht werden dürfen. Damit ist eine Übermittlung oder das Zugänglichmachen an Dritte allein zu Verfahrenszwecken grundsätzlich möglich, wobei nach § 32f Abs. 5 S. 2 StPO personenbezogene Daten einen erweiterten Schutz erfahren, da diese nur zu demjenigen Zweck verwendet werden dürfen, für den die Akteneinsicht gewährt wurde.
Die Konklusion dieser Entscheidung lautet daher: Datenschutz im Strafverfahren ist kein starres Dogma, sondern muss im Lichte des Verteidigungsrechts flexibel, aber verantwortungsvoll interpretiert werden. Und man sollte nie unterschätzen, wie proaktiv Staatsanwaltschaften Ihre Macht ausnutzen, um Verteidiger unter Druck zu setzen.
Ergebnis
Das Urteil des LG Hamburg setzt ein bedeutsames Signal für die Praxis der Strafverteidigung. Es stellt klar, dass Verteidiger bei der Organisation ihrer Verteidigungsstrategie einen erheblichen Handlungsspielraum genießen – auch wenn dies den Umgang mit sensiblen Daten Dritter einschließt. Die bloße Tatsache, dass personenbezogene Informationen an Dritte weitergegeben werden, begründet noch keine Strafbarkeit, solange dies in pflichtgemäßer Wahrnehmung des Mandats geschieht und durch einfachgesetzliche Befugnisnormen wie § 32f StPO gedeckt ist.
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