Mit seinem Beschluss vom 5. März 2025 (1 StR 25/25) konkretisiert der Bundesgerichtshof (BGH) die Reichweite des sogenannten Spezialitätsgrundsatzes im Zusammenhang mit europäischen Auslieferungsverfahren.
Die Entscheidung ist von besonderer Relevanz für Praktiker im Bereich des internationalen Strafrechts sowie für rechtsstaatlich sensibilisierte Beobachter, da sie einen feinen, aber entscheidenden Unterschied im Umgang mit europäischen und außereuropäischen Rechtshilfefällen offenlegt. Konkret geht es um die Frage, welche Konsequenzen sich aus einer nicht spezialitätskonformen Strafverfolgung eines aus einem EU-Mitgliedstaat überstellten Beschuldigten ergeben – und wo die Grenzen des staatlichen Strafanspruchs verlaufen, wenn dieser unter europarechtlichen Rahmenbedingungen steht.
Der Fall und die Besonderheit des Auslieferungsverfahrens
Dem Beschluss liegt ein Sachverhalt zugrunde, bei dem ein Angeklagter aus Italien an die deutsche Strafjustiz überstellt wurde. Allerdings bezog sich die Auslieferung nicht auf das konkret verfahrensgegenständliche Strafverfahren wegen versuchter besonders schwerer räuberischer Erpressung, sondern diente ausschließlich der Vollstreckung einer in einem anderen Verfahren rechtskräftig verhängten Freiheitsstrafe. Dies führte dazu, dass der Spezialitätsgrundsatz gemäß § 83h IRG sowie Art. 27 des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl (2002/584/JI) einschlägig war. Der Angeklagte hatte auf dessen Einhaltung ausdrücklich nicht verzichtet, was eine nicht unwesentliche juristische Komplikation darstellte.
Juristische Einordnung und Abgrenzung zu Drittstaaten
Der Spezialitätsgrundsatz besagt, dass eine ausgelieferte Person grundsätzlich nur wegen derjenigen Tat verfolgt oder bestraft werden darf, derentwegen sie ausgeliefert wurde. Bei Staaten außerhalb der Europäischen Union führt ein Verstoß gegen diesen Grundsatz regelmäßig zu einem unüberwindbaren Verfahrenshindernis im Erkenntnisverfahren – also der inhaltlichen strafrechtlichen Hauptverhandlung. Der BGH macht jedoch deutlich, dass im Binnenraum der EU eine andere Rechtslage gilt. Verstöße gegen die Spezialität im Rahmen des europäischen Haftbefehls begründen kein Prozesshindernis, sondern lediglich ein Vollstreckungshindernis sowie ein Verbot freiheitsentziehender Maßnahmen.
Diese Unterscheidung ist von erheblicher dogmatischer Bedeutung: Der Strafanspruch bleibt bestehen, kann aber nicht durchgesetzt werden, solange die formalen Voraussetzungen aus dem Auslieferungsverfahren nicht erfüllt sind. Die Rechtskraft des Urteils wird dadurch nicht beeinträchtigt – wohl aber seine praktische Durchsetzbarkeit. Der Staat darf nicht vollstrecken, bis eine nachträgliche Zustimmung des Auslieferungsstaats – hier also Italiens – eingeholt ist.
Bedeutung und Implikationen für die Praxis
Diese dogmatisch klare, aber in ihrer Umsetzung mitunter schwer zu handhabende Differenzierung hat gewichtige praktische Folgen. Strafverfolgungsbehörden müssen in Fällen mit grenzüberschreitendem Bezug penibel auf die Einhaltung der formellen Rahmenbedingungen achten. Wird ein Angeklagter aus einem EU-Staat für ein bestimmtes Verfahren ausgeliefert, kann ein weiteres Verfahren gegen ihn zwar rechtlich geführt, aber nicht ohne Weiteres vollstreckt werden. Eine umfassende prozessuale Koordination mit dem ersuchenden Staat wird damit zur conditio sine qua non der strafprozessualen Effektivität.
Zugleich wahrt diese Regelung die Eigenstaatlichkeit der Mitgliedsländer innerhalb des europäischen Rechtshilfeverbundes. Italien bleibt Herr des Verfahrensvollzugs, indem es der Verbreiterung des Strafverfolgungsspektrums – etwa durch ein Nachtragsersuchen – zustimmen muss. Der Angeklagte wiederum wird vor einem allzu weiten staatlichen Zugriff geschützt, der im Auslieferungsverfahren bewusst begrenzt wurde.
Schlussbetrachtung
Die Konklusion aus dem Beschluss des BGH lautet: Der Spezialitätsgrundsatz lebt – auch und gerade im europäischen Raum. Seine Geltung schützt nicht nur Angeklagte, sondern auch die Integrität europäischer Justizzusammenarbeit. Der deutsche Strafsenat hat dabei deutlich gemacht, dass prozessuale Sorgfalt und europarechtliche Präzision keine Hindernisse, sondern Voraussetzungen einer wirksamen und rechtsstaatlichen Strafverfolgung sind. Es liegt nun an den Verfolgungsbehörden, diesen Maßstab ernst zu nehmen – und an den europäischen Partnerstaaten, im Einzelfall über eine nachträgliche Zustimmung zu entscheiden. Bis dahin bleibt das Urteil rechtskräftig, aber im Vollstreckungsvakuum.
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