Eine ganz besondere Entscheidung findet man beim Amtsgericht Mönchengladbach-Rheydt (21 Cs-721 Js 44/22-69/22), das sich angesichts eines Strafbefehls zu einem Hausfriedensbruch auf einem Tagebaugelände mit der Rechtfertigung durch Grundrechte im Strafrecht zu beschäftigen hatte. Es fällt nicht schwer, zu prognostizieren, dass diese Entscheidung – wenn sie einmal entdeckt wurde – durch sämtliche Staatsexamina und juristische Fachzeitschriften geistern wird. Erstmal aber nur hier im Blog.
Sachverhalt
Der Sachverhalt ist (vermeintlich!) leicht, so führt das AG kurz und prägnant aus:
Der Angeklagte und weitere Personen hatten sich als „Aktion Lebenslaute“ zusammengeschlossen, um gemeinsam unter anderem für Klimaschutz und in concreto gegen den vor diesem Hintergrund abgelehnten Braunkohletagebau zu demonstrieren.
In Ausübung dessen betraten der Angeklagte und seine gesondert verfolgten 52 Mittäter(innen) am frühen Morgen … das Tagebaugelände … indem sie über die „Rampe X“ den Erdwall, der das Tagebaugelände umgab, überwandten.
Auf dem Tagebaugelände musizierten der Angeklagte und seine Mittäter(innen) gemeinsam vor einem mitgeführten „Anti-Kohle“-Banner. Kurz darauf trafen Polizeibeamte ein. Deren Aufforderung, sich auszuweisen und das Tagebaugelände zu verlassen, entsprachen der Angeklagte und seine Mittäter(innen) widerstandslos.
Musizierende Menschen singen und klatschen auf einem nicht umzäunten Gelände für gesellschaftspolitisch anerkannte Ziele – das ruft natürlich in unserem Staat die Staatsanwaltschaft auf den Plan, die dann vorgeworfen hat, rechtswidrig und schuldhaft den Tatbestand des Hausfriedensbruchs erfüllt zu haben. Doch genau hier wird es nun juristisch (wenn man denn will und nicht nur am Wortlaut des Gesetzes klebt): Offenkundig ging es insbesondere um die Wahrung der Meinungsäußerungsfreiheit. Also hängt hieran die Frage: Kann sich eine Rechtfertigung durch Grundrechte im Strafrecht ergeben?
Rechtfertigung aus den Grundrechten?
Kann die Rechtswidrigkeit erledigt sein, indem man sich unmittelbar auf Grundrechte beruft? Dieses Gericht stellt zu Beginn kurz und knapp fest: „Eine Rechtfertigung aus den Grundrechten scheidet im Strafrecht nach Auffassung des Gerichts auch ohne eine normierte Anknüpfung wie etwa in § 193 StGB nicht generell aus, sondern kommt zumindest in engen Ausnahmefällen in Betracht.“.
Begründung des Gerichts im Detail
Diese dogmatische Frage wird in der Literatur unterschiedlich beantwortet. Teile der Literatur stehen zwar auf dem Standpunkt, dass die Grundrechte generell keinen tauglichen selbstständigen Rechtfertigungsgrund bilden.
Nach Auffassung des Gerichts überzeugt aber die ebenso vertretene gegenläufige Auffassung: Denn ein verfassungsgemäßes Strafgesetz ist allein für eine verfassungsgemäße strafrechtliche Verurteilung nicht ausreichend; vielmehr muss das Strafgericht den Straftatbestand auch in verfassungsgemäßer Weise anwenden (vgl. Schmidt, ZStW 2009, 645; Classen, NStZ 1995, 371; Eilsberger, Jus 1970, 321; Krey/ Hellmann/Heinrich, Strafrecht BT, 17. Auflage, 2021, Rn. 440). Der Bestrafung eines Verhaltens, das einem generell verfassungsmäßigen Straftatbestand zuwiderläuft, können auf der Einzelfallebene folglich durchaus die Grundrechte des Täters entgegenstehen – dann nämlich, wenn sie schwerer wiegen als die vom verletzten Strafgesetz geschützten Güter (vgl. Brand / Winter, JuS 2021, 113).
Sofern der Wortlaut eines Straftatbestandes keine Anknüpfungspunkte für die Berücksichtigung grundrechtlicher Wertentscheidungen bietet, eine strafrechtliche Sanktionierung aber in verfassungsrechtlich nicht zu rechtfertigender Weise in ein Grundrecht eingreifen würde, kommt dem entsprechenden Grundrecht die Funktion eines selbständigen Rechtfertigungsgrundes zu; die Feststellung eines solchen Grundrechtsvorrangs bestimmt sich dabei im formalen Rahmen einer Verhältnismäßigkeitsprüfung im Wege einer Abwägung zwischen dem betroffenen Grundrecht und dem straftatbestandlich geschützten Rechtsgut (vgl. Schmidt, ZStW 2009, 645). Dogmatisch ist zu vertreten, dass diese Abwägung zu einer Härtemilderungskompetenz im Einzelfall mit der Folge einer strafrechtlichen Rechtfertigungswirkung führen kann (vgl. Schmidt, ZStW 2009, 645; Pernice, Billigkeit und Härteklauseln im öffentlichen Recht, 555). Alternativ wird begrifflich ein „grundrechtlicher Verantwortungsausschluss“ ins Feld geführt (vgl. Roxin, Fs. Kaiser, 1998, 885).
Entsprechend wird eine Rechtfertigung unmittelbar aus den Grundrechten auch in der strafrechtlichen Rechtsprechung zumindest mitunter in Betracht gezogen (vgl. zur Kunstfreiheit: LG Mainz, Beschl. v. 13.08.1999 – 1 Qs 151/99, NJW 2000, 2220; zur Religions- / Gewissensfreiheit: OLG Jena, NJW 2006, 1892; OLG Hamm Beschl. v. 26.02.2015 – 5 RVs 7/15, NJW-Spezial 2015, 377; zur Pressefreiheit OLG Düsseldorf, Urt. v. 25.10.2005 – III-5 Ss 63/05- 33/05 I, NJW 2006, 630).
Vor dem Hintergrund des Rechtsstaatsprinzips sind, sofern der Wortlaut eines Straftatbestandes keine Anknüpfungspunkte für die Berücksichtigung grundrechtlicher Wertentscheidungen bietet, an das Überwiegen der ausgeübten Grundrechte gegenüber dem durch den Straftatbestand geschützten Rechtsgut aber besonders hohe Anforderungen zu stellen. Die Annahme einer Rechtfertigung aus einem solchen nicht ausdrücklich normierten Rechtfertigungsgrund darf deshalb nur in engen Ausnahmefällen in Betracht kommen, in denen eine strafrechtliche Verurteilung zu einem nicht tragbaren Ergebnis führen würde.
Die Entscheidung ist sowohl in Argumentation als auch im Ergebnis durchaus überzeugend, zeigt aber zugleich auf, wie viel erhebliches Diskussionspotenzial noch besteht. SO wird vom AG der für mich dogmatisch spannendste, praktisch aber irrelevante Teil übersprungen: Nämlich die Frage, ob man überhaupt erst in der Rechtswidrigkeit (einzelne) Grundrechte (natürlich) zu prüfen hat, oder ob nicht schon durch grunderchtskonforme Auslegung auf Tatbestandsebene ein Einfluss stattfinden muss.
So mag man gerade beim Tatbestand des Hausfriedensbruchs hinterfragen, warum seit je her in Stein gemeißelt ist, dass die Merkmale „widerrechtlich“ und „ohne Befugnis“ lediglich das allgemeine Deliktsmerkmal der Rechtswidrigkeit kennzeichnen. Für mich wäre es deutlich überzeugender, dies als Tatbestandsmerkmale ieS einzustufen – und hier dann eine grundrechtskonforme Auslegung anzustreben.
Man mag mir hier entgegnen, dass es Aufgabe der Tatbestandslehre gerade ist, das deliktstypische zu definieren und das deliktsübergreifende erst in der Rechtswidrigkeit zu prüfen (so etwa Roxin im Strafrecht AT I, §18, Rn.50). Hiergegen spricht m.E. bereits als schwaches Argument, dass der Gesetzgeber sicherlich keineswegs Gesetze wirksam in Kraft setzen möchte, die schon im Tatbestand die Ausübung von Grundrechten auf den ersten Blick unmöglich machen. Freilich mag man hier entgegenhalten, dass Gesetze ohnehin immer in einem Spannungsverhältnis zu Grundrechten stehen.
Um es hier nicht über Gebühr auszuführen, sollte jedenfalls angedacht werden, ob die in diesem Zusammenhang pauschale Handhabung von Grundrechte, nach dem entweder-oder-Prinzip, nicht infrage zu stellen ist. Vielmehr mag angedacht sein, dass (gestaltende) Teilhaberechte wie die Meinungsäußerungsfreiheit auf Tatbestandsebene durch grundrechtskonforme Auslegung einfließen; während abwehrende Grundrechte wie die Gewissensfreiheit auf der Ebene der Rechtswidrigkeit einfließen. Damit wäre zugleich die ohnehin regelmäßig ignorierte Tatsache erledigt, dass ohnehin europarechtskonform auszulegen ist und unsere im Strafrecht im Wesentlichen betroffenen Grundrechte sich heute längst in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union wieder finden.
Für einen Blog eignet es sich nicht, dies hier weiter zu vertiefen; fachkundigen Lesern sei jedenfalls der Tipp gegeben, die Thematik zu vertiefen. Wer vor der ersten juristischen Staatsprüfung steht dürfte in jedem Fall mit einem solchen Fall in der Klausur rechnen dürfen, hier werden viel zu spannende Fragen miteinander verquickt.
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Ergebnis: Freispruch
Um das Ende vorweg zu nehmen: Es endete im Freispruch. Das Gericht nahm eine Abwägung der betroffenen Rechtsgüter vor und stellte zu Recht fest, dass schon die Rechtsverletzung als solche marginal gewesen ist, wobei der §123 StGB lediglich ein privates Recht schützt (hier hätte man m.E. noch einfügen können, dass der Tagebaubetreiber zudem öffentlichen Interesse dient und damit auch mehr öffentliche Auseinandersetzung zu erdulden hat).
Dem gegenüber stellt das Gericht hervor, dass hier Vrsammlungsfreiheit, Meinungsäußherungsfreiheit und Gewissensfreiheit betroffen sind. Durchaus überrascht war ich von der angeführten Versammlungsfreiheit, hier führt das Gericht aus:
Die Wahrnehmung der Versammlungsfreiheit kann zu Rechtsbeeinträchtigungen Dritter führen, die unter Umständen hingenommen werden müssen. Dies kann bei unbeabsichtigten, aber zwangsläufigen Nebenfolgen von Demonstrationen (etwa Verkehrs- und Zugangsbehinderungen im Hinblick auf die durch die Demonstranten in Anspruch genommenen Straßen, Plätze und Grundstücke etc.) ebenso der Fall sein wie dort, wo zwar gezielt, aber nur kurzfristig und ohne relevante Behinderungen Rechtsgüter Dritter miteinbezogen werden (vgl. BGH, Urt. v. 04.11.1997 – VI ZR 348/96, NJW-RR 1998, 673). In der zitierten Entscheidung (die zwar einen zivilrechtlichen, aber – weil deliktsrechtlichen – zur Frage der Rechtfertigung unter Wertungsgesichtspunkten vergleichbaren Fall betrifft,) verneinte der Bundesgerichtshof eine Rechtfertigung, weil die dort zu bewertende nicht nur vorübergehende Blockade von Baumaschinen deren Inbetriebnahme verhindert und damit erheblich in den Betrieb der Eigentümerin eingegriffen habe.
Soweit es „lediglich um die Aufstellung von Demonstranten im Bereich der Baumaschinen zwecks Anfertigung von Pressefotos“ gehe, sei aber eine Rechtfertigung aus Art. 8 GG ausdrücklich in Betracht zu ziehen. Der Rahmen der verfassungsrechtlich geschützten Versammlungsfreiheit werde dort verlassen, wo nicht mehr die geistige Auseinandersetzung, die Artikulierung der gegensätzlichen Standpunkte im Meinungskampf und die Kundbarmachung des Protests als solche durchgeführt werden, sondern wo die Aktionen darauf angelegt seien, dass durch zielgerichtete Ausübung von Zwang Dritte in rechtlich erheblicher Weise darin behindert werden sollen, ihre geschützten Rechtsgüter zu nutzen. Das Recht der Versammlungsfreiheit decke grundsätzlich nicht Maßnahmen, die nicht zur Überzeugung der Gegenseite im Meinungskampf, sondern dazu führen sollen, dass sich die Gegenseite ohne Möglichkeit zu eigener Willensentscheidung einem auf sie ausgeübten Zwang beuge (vgl. BGH a.a.O.). An diesem Maßstab gemessen ist das bloße friedliche Musizieren auf dem Tagebaugelände, das auf kurze Dauer angelegt war und nicht erkennbar in den Betriebsablauf eingriff, unbeschadet des damit verwirklichten Hausfriedensbruchs von der Versammlungsfreiheit gedeckt.
Auch hier würde ich den Fokus darauf richten, dass es nicht „irgendein“ Unternehmen war, sondern öffentliche Belange betroffen sind, auch im Rahmen der schlichten Tätigkeit des Tagebau-Betreibers als Energieversorger. Insbesondere berechtigt die Versammlungsfreiheit gerade nicht ausnahmslos sich genau dort zu treffen, wo man es gerade möchte. Ich finde aber, die Entscheidung des AG kann man zwanglos so verstehen, dass hier dann die Sonderrolle des Energieversorgers hineinspielt, so wird bei RN.40 dann hierzu treffend ausgeführt:
Der Angeklagte hätte die wahrgenommenen Grundrechte nicht in vergleichbar effektiver Weise ausüben können, ohne das Hausrecht … an dem Tagebaugelände zu verletzen. Die Versammlung und Kundgebung war darauf ausgerichtet, zum einen gegenüber der … gegen deren Braunkohleabbau zu protestieren. Zum anderen ging es darum, auf den gesellschaftlichen Meinungsbildungsprozess Einfluss zu nehmen. Eine Wahrnehmung des Protests durch die … wäre an anderer Stelle kaum erfolgt. Der Einfluss auf den gesellschaftlichen Meinungsbildungsprozess konnte erst durch die mediale Berichterstattung wahrgenommen werden. Diese wurde gerade durch den Tabubruch des Betretens des Tagebaugeländes und der damit illustrierten Bereitschaft, für die Überzeugung einen Straftatbestand zu verwirklichen, erreicht.
Auch die Gewissensfreiheit sehe ich in dem Zusammenhang eher als Abwehrrecht und weniger als Teilhaberecht in dem Sinne, dass hieraus ein Hausfriedensbruch – als gegen Dritte Rechtsgüter getätigte Handlung – legitimiert werden kann. Dies mag hinsichtlich unterlassener Handlungen durchaus anders sein (nur als Denkanstoß). Sehr kurz kommt dagegen die Meinungsäußerungsfreiheit, die zwar bejaht wird, aus meiner Sicht in einer Prüfung aber den Schwerpunkt ausmachen sollte.
Fazit: Herausragende Entscheidung, die kein Freibrief ist
Die Entscheidung des AG ist absolut herausragend, sowohl in der Begründung und der Arbeit, die sich hier jemand gemacht hat; aber auch als deutliches Zeichen, dass man nach einem Strafbefehl beim AG nicht zwingend „Business as usual“ erwarten darf. Zugleich ist diese Entscheidung aber gerade kein Freibrief in dem Sinne, dass jegliche „Aktion“ gleich berechtigt ist, der Fall hier war besonders in dem Sinne, dass eine nur marginale Rechtsverletzung im Raum stand. Vielmehr bedauerlich ist es, dass die zuständige Staatsanwaltschaft das Verfahren nicht frühzeitig nach §153 StPO eingestellt hat, sondern stattdessen offenkundig friedliebende und nicht ernsthaft beeinträchtigende Demonstranten zumindest grundsätzlich so behandelt hat, wie diejenigen, die mit physischer Gewalt agieren.
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