VG Ansbach gibt Eilantrag wegen Treu und Glauben statt: Mit Beschluss vom 20. Januar 2025 (Az. AN 10 S 24.2731) hat das Verwaltungsgericht Ansbach einer Antragstellerin im einstweiligen Rechtsschutzverfahren Recht gegeben, der im März 2024 entzogenen Fahrerlaubnis wurde die aufschiebende Wirkung ihrer Klage wieder zuerkannt.
Der Fall illustriert die Brisanz von Übergangsfragen im Fahrerlaubnisrecht nach der zum 1. April 2024 erfolgten Neufassung der Anlage 4 zur FeV, insbesondere im Hinblick auf regelmäßigen Cannabiskonsum. Das Gericht wertete die Weiterverfolgung eines nach altem Recht formell rechtmäßigen Fahrerlaubnisentzugs als treuwidrig, da unter der neuen Rechtslage eine sofortige Neuerteilung geboten wäre.
Sachverhalt
Die Antragstellerin war im Besitz einer Fahrerlaubnis diverser Klassen. Im Jahr 2022 unternahm sie einen Suizidversuch unter Einnahme psychoaktiver Medikamente. Zugleich war bei ihr eine rezidivierende depressive Störung diagnostiziert worden. Im Zuge einer Fahreignungsüberprüfung legte sie ein ärztliches Gutachten vor, das keine Hinweise auf aktuelle medizinische Bedenken hinsichtlich der Fahreignung ergab. Im Rahmen der Begutachtung gab sie an, über einen Zeitraum von eineinhalb bis zwei Jahren täglich Cannabis konsumiert zu haben. Die Urinkontrollen waren unauffällig.
In der Folge ordnete die Fahrerlaubnisbehörde ein medizinisch-psychologisches Gutachten an, das zu dem Schluss kam, dass eine stabile Abstinenz nicht nachgewiesen sei und ein künftiger Konsum wahrscheinlich erscheine. Daraufhin wurde mit Bescheid vom 8. März 2024 die Fahrerlaubnis entzogen und der sofortige Vollzug angeordnet. Gegen diesen Bescheid erhob die Antragstellerin Klage und beantragte einstweiligen Rechtsschutz.
Rechtliche Analyse
Die Klage gegen die Fahrerlaubnisentziehung hat nach summarischer Prüfung voraussichtlich Erfolg. Das Gericht stellte die aufschiebende Wirkung der Klage wieder her. Die Antragstellerin darf bis zur Entscheidung im Hauptsacheverfahren wieder ein Fahrzeug führen.
Maßgeblicher Zeitpunkt: Noch altes Recht
Das Gericht stellte zunächst klar, dass die Beurteilung der Rechtmäßigkeit des Entzugs nach der Rechtslage im Zeitpunkt des Bescheiderlasses (8. März 2024) zu erfolgen habe. Nach der damals geltenden Rechtslage (Anlage 4 Nr. 9.2.1 FeV a.F.) war bereits der regelmäßige Cannabiskonsum ohne Trennung vom Straßenverkehr als Eignungsausschlussgrund ausreichend. Die Behörde durfte daher auf Grundlage des negativen MPU-Gutachtens die Fahrerlaubnis entziehen.
Neuer Maßstab ab 1. April 2024
Seit der FeV-Reform vom 1. April 2024 unterscheidet das Fahrerlaubnisrecht zwischen gelegentlichem, regelmäßigem und missbräuchlichem Konsum. Nicht mehr jeder regelmäßige Konsum begründet für sich genommen Zweifel an der Fahreignung. Entscheidend ist, ob ein Cannabismissbrauch vorliegt, der sich insbesondere durch eine unzureichende Trennung von Konsum und Verkehrsteilnahme manifestiert. Solche weitergehenden Anhaltspunkte lagen hier jedoch nicht vor – insbesondere hatte die Antragstellerin nie unter Einfluss ein Fahrzeug geführt.
Treuwidriges Verhalten der Behörde
Das Gericht urteilte, dass ein Fortbestehen des Entzugs unter Geltung des neuen Rechts mit dem Grundsatz von Treu und Glauben nicht zu vereinbaren sei. Denn unter Zugrundelegung der neuen Rechtslage sei davon auszugehen, dass der Antragstellerin im Falle eines Wiedererteilungsantrags die Fahrerlaubnis ohne weiteres erneut erteilt werden müsste. Dies mache es rechtsstaatlich untragbar, sie im einstweiligen Rechtsschutzverfahren zur Hinnahme der Entziehung zu zwingen, nur damit sie unmittelbar im Anschluss einen erfolgreichen Wiedererteilungsantrag stellen könne.
Keine tragfähige Prognose zu Arzneimittelmissbrauch
Soweit das Gutachten eine künftige missbräuchliche Einnahme psychoaktiver Arzneimittel befürchtete, wies das Gericht darauf hin, dass diese auf einen einmaligen Suizidversuch zurückzuführen war. Ein solcher Einzelfall sei nicht als missbräuchlicher Gebrauch im Sinne der FeV zu werten. Entsprechend fehle es auch hier an einer rechtlich relevanten Prognosegrundlage für eine Eignungsverneinung.
Die Fahrerlaubnisbehörden müssen künftig sensibel auf gesetzgeberische Umbrüche reagieren. Ein rechtlich vertretbarer Entzug kann bei geänderter Rechtslage schnell rechtsmissbräuchlich werden – zumindest dann, wenn dieselbe Behörde in der „nächsten Sekunde“ die Erlaubnis wiedererteilen müsste. Verwaltungsverfahren sind keine Inseln – sie stehen unter dem Einfluss der aktuellen Rechtswirklichkeit.
Das VG Ansbach stoppt eine Fahrerlaubnisentziehung, die sich nach dem Wandel im Cannabisrecht als unhaltbar erwiesen hat. Es genügt nicht, dass ein Bescheid formal rechtmäßig ist – wenn der Gesetzgeber die rechtlichen Maßstäbe grundlegend ändert, muss auch die Verwaltung innehalten. Andernfalls gerät sie in Widerspruch zu Treu und Glauben.
Bewertung der Entscheidung
Das VG Ansbach setzt mit seinem Beschluss ein deutliches Zeichen für ein verfassungskonformes Verständnis verwaltungsrechtlicher Kontinuität bei sich ändernder Rechtslage. Obwohl die Entziehung der Fahrerlaubnis nach altem Recht korrekt war, steht die gerichtliche Bewertung unter dem Primat materieller Gerechtigkeit: Ein Verwaltungsakt, der im Widerspruch zu einer geänderten Rechtsordnung steht und durch eine einzige Formalität (Neuerteilungsantrag) umgehend beseitigt werden müsste, ist nicht mehr haltbar.
Hervorzuheben ist, dass das Gericht nicht nur aus Gründen der neuen Gesetzeslage, sondern explizit auch wegen der veränderten Bewertung des Cannabiskonsums durch den Gesetzgeber argumentiert. Die Rechtsprechung wird künftig differenzieren müssen: Bloßer Konsum ist kein hinreichender Beweis für fahrerlaubnisrechtliche Ungeeignetheit.
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