BGH zum Freispruch wegen versuchten Totschlags

Wahrheit, Zweifel und die Grenze der Spekulation: Die Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 16. Oktober 2024 (Az. 6 StR 199/24) knüpft an eine vielschichtige Diskussion an, die das deutsche Strafprozessrecht immer wieder durchzieht: Wie weit darf ein Tatgericht im Zweifel freisprechen – und wann überschreitet es dabei die Grenze zur Spekulation? In dem Fall, der dem 6. Strafsenat zur Überprüfung vorlag, ging es um einen versuchten im Rahmen einer gewaltsamen Auseinandersetzung mit einschneidenden Konsequenzen für das Opfer. Der Angeklagte wurde in der zweiten freigesprochen – das Landgericht hielt seine eigene Täterschaft trotz früherer Geständnisse für nicht bewiesen. Der hob diesen Freispruch jedoch auf und wies die Sache an eine andere Jugendkammer zurück.

Im Zentrum steht die Frage nach der belastbaren Beweiswürdigung, dem Umgang mit Teilgeständnissen und der Rolle hypothetischer Alternativerklärungen, etwa eines „freiwilligen Bauernopfers“. Die Entscheidung ist ein Lehrstück für das rechtliche Spannungsfeld zwischen dem Grundsatz „in dubio pro reo“ und der Pflicht zur rational nachvollziehbaren Tatsachenfeststellung.

Der Fall: Gewaltsame Eskalation und wechselhafte Aussagen

Dem Angeklagten wurde zur Last gelegt, im Rahmen einer gruppendynamischen Eskalation am Abend des 28. April 2020 einem Nebenkläger mit einem Schraubendreher eine lebensgefährliche Stichverletzung in die Schläfe zugefügt zu haben. Die Tat geschah im Kontext eines Treffens rivalisierender Jugendlicher zur „Klärung“ eines Streits um „illegale Geschäfte“. Der Nebenkläger überlebte die Verletzung nur aufgrund sofortiger notärztlicher Intervention. Der damals 17-jährige Angeklagte hatte in mehreren Verfahrensphasen gestanden, an der Tat beteiligt gewesen zu sein – mit teilweise abweichenden Details zur konkreten Handlung. Vor Gericht ließ er sich zuletzt nur noch über seinen Verteidiger ein, verweigerte jedoch die Beantwortung von Nachfragen.

Das Landgericht Braunschweig wertete seine Einlassung als widersprüchlich und nicht glaubhaft. Es hielt es zudem für möglich, dass der Angeklagte sich absichtlich selbst belastet habe, um als jüngster Beteiligter mit günstigem Jugendstrafrechtsschonraum andere Tatbeteiligte zu schützen – ein „freiwilliges Bauernopfer“. Auf dieser Grundlage sprach das Gericht ihn frei und ordnete Entschädigung für die erlittene an.

Die revisionsgerichtliche Korrektur: Anforderungen an die Beweiswürdigung

Der Bundesgerichtshof hob dieses Urteil auf – mit deutlicher Kritik an der Argumentationsstruktur des Landgerichts. Zwar betont auch der 6. Strafsenat, dass es grundsätzlich Sache des Tatrichters sei, sich eine Überzeugung von der Täterschaft zu bilden oder – bei verbleibenden Zweifeln – freizusprechen. Doch genau hier setzt die rechtliche Prüfung an: Ein Freispruch darf nicht auf bloßen Spekulationen beruhen oder zentrale belastende Indizien ungewürdigt lassen.

So beanstandete der Senat die fehlende Auseinandersetzung mit belastenden Umständen, etwa mit der spontanen Aussage eines Zeugen, der den Angeklagten im Zuge einer Wohnungsdurchsuchung unmittelbar mit der Tat in Verbindung brachte, und mit Äußerungen des Angeklagten selbst gegenüber einer Zeugin, die zeitlich eng an das Tatgeschehen anknüpften. Auch das angebliche „Falschgeständnis“ wurde nicht hinreichend unterlegt: Das Tatgericht hatte angenommen, der Angeklagte habe sich aus gruppeninternem Loyalitätsverhalten selbst belastet – ohne jedoch belastbare Anhaltspunkte für ein solches Motiv oder eine entsprechende Dynamik zu benennen. Stattdessen stützte es seine Annahme auf ein Briefzitat eines Mitbeteiligten, das sich ebenso gut als Appell zum Schweigen oder zur Standhaftigkeit auslegen ließ. Solche Mehrdeutigkeit reicht nicht aus, um ein Geständnis als entwertet zu qualifizieren.

Der Senat erinnerte zudem daran, dass eine teilweise als unglaubhaft bewertete Einlassung nicht automatisch vollständig verworfen werden darf, sondern auf belastbare Anhaltspunkte hin zu überprüfen ist. Gerade bei wechselhaften oder taktisch geprägten Aussagen liegt es nahe, dass einzelne Elemente dennoch zutreffen – und dass sich aus einer Gesamtschau belastbare Rückschlüsse ergeben könnten. Hier aber hatte das Landgericht nicht einmal eine solche Gesamtschau vorgenommen, sondern die belastenden Indizien isoliert betrachtet und für sich genommen verworfen.

Die Grenzen des „in dubio pro reo“

Die Entscheidung berührt in zentraler Weise den Umgang mit Zweifeln. Der BGH betont, dass das Tatgericht einem Angeklagten nicht deshalb glauben darf, weil eine andere Version theoretisch möglich wäre – Zweifel müssen sich aus der Beweisaufnahme ergeben, nicht aus einer abstrakt-theoretischen Möglichkeit. Der Standard für einen Freispruch ist also nicht die bloße Vorstellbarkeit einer alternativen Tatversion, sondern die begründete Überzeugung, dass der Angeklagte nicht der Täter war oder jedenfalls nicht überführt werden konnte.

Der Fall zeigt exemplarisch, wie das Prinzip der Unschuldsvermutung mit der Pflicht zur rationalen Tatsachenfeststellung zusammengeht. Wer freispricht, muss dies auf eine tragfähige Grundlage stellen – und darf sich dabei nicht auf Mutmaßungen, Plausibilitäten oder narrative Alternativen zurückziehen. Gerade in Jugendverfahren, wo mildernde Umstände rasch unterstellt und informelle Gruppendynamiken als Erklärungsmuster bemüht werden, besteht die Gefahr, dass rechtsstaatlich notwendige Feststellungsarbeit durch pädagogische Annahmen ersetzt wird. Der BGH macht deutlich, dass dies nicht genügt.


Schlussbetrachtung

In der Kernaussage bekräftigt der Bundesgerichtshof den Grundsatz, dass richterliche Zweifel am Nachweis der Täterschaft stets rational und nachvollziehbar begründet sein müssen. Ein Freispruch darf nicht auf einer unvollständigen oder lückenhaften Beweiswürdigung beruhen – insbesondere dann nicht, wenn ein Geständnis vorliegt, das zumindest teilweise belastbare Aussagen enthält. Spekulative Erklärungsansätze wie das Motiv eines „freiwilligen Bauernopfers“ genügen den Anforderungen nicht, wenn sie nicht mit der Lebensrealität des Angeklagten abgeglichen und im Lichte der Gesamttatsachen gewürdigt werden.

Das Urteil ist ein starkes Plädoyer für methodische Disziplin und intellektuelle Redlichkeit in der Beweiswürdigung – besonders in Verfahren, in denen Aussage gegen Aussage steht oder das prozesstaktische Verhalten eines Angeklagten zur zentralen Deutungsfigur wird. Es mahnt zur Klarheit, wo Unschärfe sonst zur Wahrheit erklärt wird – und schützt so den rechtsstaatlichen Kern des Strafverfahrens.

Fachanwalt für Strafrecht & IT-Recht bei Anwaltskanzlei Ferner Alsdorf
Ich bin Fachanwalt für Strafrecht + Fachanwalt für IT-Recht und widme mich beruflich ganz der Tätigkeit als Strafverteidiger und dem IT-Recht mit Schwerpunkt Cybersecurity & Softwarerecht. Ich bin zertifizierter Experte für Krisenkommunikation & Cybersecurity; zudem Autor sowohl in Fachzeitschriften als auch in einem renommierten StPO-Kommentar zum IT-Strafprozessrecht und zur EU-Staatsanwaltschaft.Als Softwareentwickler bin ich in Python zertifiziert und habe IT-Handbücher geschrieben.

Erreichbarkeit: Per Mail, Rückruf, Threema oder Whatsapp.

Unsere Kanzlei ist spezialisiert auf Starke Strafverteidigung, seriöses Wirtschaftsstrafrecht und anspruchsvolles IT-Recht inkl. IT-Sicherheitsrecht - ergänzt um Arbeitsrecht mit Fokus auf Managerhaftung.
Rechtsanwalt Jens Ferner (Fachanwalt für IT- & Strafrecht - zertifizierter Experte in Krisenkommunikation & Cybersecurity)
Letzte Artikel von Rechtsanwalt Jens Ferner (Fachanwalt für IT- & Strafrecht - zertifizierter Experte in Krisenkommunikation & Cybersecurity) (Alle anzeigen)

Von Rechtsanwalt Jens Ferner (Fachanwalt für IT- & Strafrecht - zertifizierter Experte in Krisenkommunikation & Cybersecurity)

Ich bin Fachanwalt für Strafrecht + Fachanwalt für IT-Recht und widme mich beruflich ganz der Tätigkeit als Strafverteidiger und dem IT-Recht mit Schwerpunkt Cybersecurity & Softwarerecht. Ich bin zertifizierter Experte für Krisenkommunikation & Cybersecurity; zudem Autor sowohl in Fachzeitschriften als auch in einem renommierten StPO-Kommentar zum IT-Strafprozessrecht und zur EU-Staatsanwaltschaft.Als Softwareentwickler bin ich in Python zertifiziert und habe IT-Handbücher geschrieben.

Erreichbarkeit: Per Mail, Rückruf, Threema oder Whatsapp.

Unsere Kanzlei ist spezialisiert auf Starke Strafverteidigung, seriöses Wirtschaftsstrafrecht und anspruchsvolles IT-Recht inkl. IT-Sicherheitsrecht - ergänzt um Arbeitsrecht mit Fokus auf Managerhaftung.