Das Amtsgericht München hat am 20. Januar 2022 (Az. 419 C 13845/21) in einem bedeutsamen Fall zur Videoüberwachung in Mehrparteienhäusern entschieden. Die Entscheidung befasst sich mit den Rechten der Mieter hinsichtlich des Schutzes ihrer Privatsphäre und der informationellen Selbstbestimmung gegenüber den Sicherheitsinteressen der Vermieter.
Sachverhalt
Die Klägerin mietete seit 1993 eine Wohnung in einem Mehrparteienhaus, das 2003 von den Beklagten übernommen wurde. Im April 2021 installierten die Beklagten mehrere Überwachungskameras im Gebäude: eine im Hausflur, eine im Erdgeschoss bei der Briefkastenanlage, eine im Untergeschoss bei den Kellerräumen und eine im Müllraum.
Diese Maßnahmen wurden angeblich zur Bekämpfung von Diebstählen, Sachbeschädigungen und anderen Problemen getroffen. Die Klägerin forderte die Entfernung der Kameras, da sie ihre Privatsphäre verletzt sah.
Rechtliche Analyse
Das Gericht entschied zugunsten der Klägerin und ordnete die Entfernung der Kameras sowie die Unterlassung zukünftiger Kamera-Installationen an. Die Entscheidung basierte auf mehreren rechtlichen Erwägungen:
- Allgemeines Persönlichkeitsrecht:
Die Installation der Überwachungskameras stellt eine Beeinträchtigung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts der Klägerin dar, insbesondere in seiner Ausprägung als Recht auf informationelle Selbstbestimmung. Dieses Recht schützt die Befugnis des Einzelnen, selbst zu entscheiden, wann und innerhalb welcher Grenzen persönliche Daten preisgegeben und verwendet werden. - Gefährdung der Persönlichkeitsentfaltung:
Die ständige Videoüberwachung in Gemeinschaftsbereichen eines Wohnhauses beeinträchtigt die freie Entfaltung der Persönlichkeit, da die Mieter jederzeit mit der Beobachtung durch Personen rechnen müssen, die sie selbst nicht sehen können. Die Aufzeichnung von Bewegungen ermöglicht es Dritten, ein Bewegungsprofil der Betroffenen zu erstellen, was einen erheblichen Eingriff in die Privatsphäre darstellt. - Fehlende Rechtfertigung:
Eine Rechtfertigung für diesen Eingriff lag nicht vor. Die Beklagten konnten keine schwerwiegenden Beeinträchtigungen geltend machen, die eine solche Maßnahme rechtfertigen würden. Straftaten wie Diebstähle oder Sachbeschädigungen rechtfertigen keine dauerhafte Videoüberwachung, da mildere Mittel wie häufigere Kontrollgänge durch einen Hausmeister ausreichend sind. - Interessensabwägung:
Das Gericht führte eine umfassende Güter- und Interessenabwägung durch und stellte fest, dass das Persönlichkeitsrecht der Klägerin höher zu gewichten sei als das Sicherheitsinteresse der Beklagten. Auch die Einwilligung anderer Mieter konnte das fehlende Einverständnis der Klägerin nicht ersetzen. - Wiederholungsgefahr:
Es bestand eine ernsthafte Besorgnis, dass die Beklagten in Zukunft erneut Kameras installieren würden. Daher wurde auch ein Unterlassungsanspruch bestätigt.
Kritische Betrachtung und Lösungsvorschläge
Diese Entscheidung unterstreicht die Bedeutung des Schutzes der Privatsphäre der Mieter in Mehrparteienhäusern. Die Installation von Überwachungskameras darf nicht leichtfertig erfolgen und muss stets verhältnismäßig sein. Vermieter sollten alternative Maßnahmen in Betracht ziehen, um Sicherheitsprobleme zu lösen, ohne in die Privatsphäre der Mieter einzugreifen.
Eine praktikable Lösung könnte darin bestehen, offene Gespräche zwischen Vermietern und Mietern zu führen, um gemeinsam akzeptable Sicherheitsmaßnahmen zu entwickeln. Zusätzlich könnten gezielte Maßnahmen wie die Einstellung eines Hausmeisters oder die Installation von sichereren Türen und Schlössern helfen, Sicherheitsprobleme zu lösen, ohne die Privatsphäre der Mieter zu beeinträchtigen.
Fazit
Das Urteil des AG München verdeutlicht, dass die Rechte der Mieter auf Privatsphäre und informationelle Selbstbestimmung hohen Stellenwert genießen. Überwachungskameras in Gemeinschaftsbereichen von Wohnhäusern dürfen nur unter strengen Voraussetzungen installiert werden. Vermieter müssen sicherstellen, dass ihre Maßnahmen verhältnismäßig sind und die Rechte der Mieter nicht unverhältnismäßig beeinträchtigen. Durch Kommunikation und Rücksichtnahme können viele Konflikte vermieden werden, ohne dass die Sicherheit im Wohnumfeld darunter leidet.
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