Das Oberlandesgericht Braunschweig hat in einem bemerkenswerten Urteil vom 7. September 2023 (Az.: 1 ORs 10/23) entschieden, dass die Veröffentlichung eines sogenannten „Judensterns“ mit der Aufschrift „nicht geimpft“ auf Facebook nicht den Tatbestand der Volksverhetzung gemäß § 130 Abs. 3 StGB erfüllt. Diese Entscheidung wirft ein Licht auf die Gratwanderung zwischen Meinungsfreiheit und der Notwendigkeit, historisch sensible Symbole zu schützen.
Der Fall
Ein Angeklagter hatte auf seinem Facebook-Profil einen gelbfarbenen Stern, der dem Judenstern nachempfunden war, mit der Aufschrift „NICHT GEIMPFT“ veröffentlicht. Diese Handlung wurde zunächst als potenzielle Volksverhetzung angesehen. Das Amtsgericht Clausthal-Zellerfeld sprach ihn jedoch frei, woraufhin die Staatsanwaltschaft Revision einlegte. Das OLG Braunschweig bestätigte schließlich den Freispruch.
Die rechtliche Einordnung
Das OLG Braunschweig stellte fest, dass die Verpflichtung der Juden zum Tragen des Judensterns während der NS-Zeit, für sich genommen, keinen Völkermord im Sinne von § 6 Abs. 1 Nr. 3 VStGB darstellt. Diese historische Kennzeichnung ist juristisch von der „auf körperliche Zerstörung gerichteten lebensgefährlichen Verschlechterung ihrer Lebensbedingungen“ zu trennen. Daraus folgte, dass der Tatbestand der Volksverhetzung im konkreten Fall nicht erfüllt war.
Meinungsfreiheit und öffentlicher Frieden
Interessant ist die Abwägung des Gerichts bezüglich der Meinungsfreiheit. Das OLG Braunschweig betonte, dass die Verwendung des „Ungeimpft-Sternes“ in einem Facebook-Profil, ohne weitere Umstände, nicht den Tatbestand der Volksverhetzung erfüllt, da es an der Eignung zur Störung des öffentlichen Friedens fehlt. Dies unterstreicht, wie das Recht auf freie Meinungsäußerung, selbst bei provokativen oder geschichtlich beladenen Inhalten, geschützt wird:
Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, die auch das Amtsgericht in Bezug genommen hat, ist die Eignung, den öffentlichen Frieden zu stören, bei der hier in Frage kommenden Begehungsweise des Verharmlosens (§ 130 Abs. 3 Alt. 3 StGB) – anders als in den Fällen der Leugnung und der Billigung (§ 130 Abs. 3 Alt. 1 und 2 StGB) – eigens festzustellen und nicht indiziert (vgl. BVerfG, Beschluss vom 22. Juni 2018, 1 BvR 2083/15, juris, Rn. 23). Dem Begriff des öffentlichen Friedens ist ein im Lichte des Art. 5 Abs. 1 GG eingegrenztes Verständnis zugrunde zu legen. Nicht tragfähig ist ein Verständnis des öffentlichen Friedens, das auf den Schutz vor subjektiver Beunruhigung der Bürger durch die Konfrontation mit provokanten Meinungen und Ideologien zielt (BVerfG, a.a.O., Rn. 26). Eingriffe in die Meinungsfreiheit dürfen daher nicht darauf gerichtet sein, Schutzmaßnahmen gegenüber rein geistig bleibenden Wirkungen von bestimmten Meinungsäußerungen zu treffen (BVerfG, Beschluss vom 4. November 2009, 1 BvR 2150/08, juris, Rn. 72).
Die mögliche Konfrontation mit beunruhigenden Meinungen, auch wenn sie in ihrer gedanklichen Konsequenz gefährlich und selbst wenn sie auf eine prinzipielle Umwälzung der geltenden Ordnung gerichtet sind, gehört zum freiheitlichen Staat (BVerfG, Beschluss vom 4. November 2009, a.a.O., Rn. 77). Weder der Schutz vor einer „Vergiftung des Klimas“ noch der Schutz der Bevölkerung vor einer Kränkung ihres Rechtsbewusstseins durch totalitäre Ideologien oder eine offenkundig falsche Interpretation der Geschichte sind Eingriffsgrund (BVerfG, Beschluss vom 22. Juni 2018, a.a.O., Rn. 26 und BVerfG, Beschluss vom 4. November 2009, a.a.O., Rn. 77). Der Schutz solcher Äußerungen durch die Meinungsfreiheit besagt damit nicht, dass diese als inhaltlich akzeptabel mit Gleichgültigkeit in der öffentlichen Diskussion aufzunehmen sind. Die freiheitliche Ordnung des Grundgesetztes setzt vielmehr darauf, dass Äußerungen, die für eine demokratische Öffentlichkeit schwer erträglich sein können, grundsätzlich nicht durch Verbote, sondern in der öffentlichen Auseinandersetzung entgegengetreten, ihr mit bürgerschaftlichem Engagement begegnet und letztlich in Freiheit die Gefolgschaft verweigert wird (BVerfG, Beschluss vom 22. Juni 2018, a.a.O., Rn. 30 und BVerfG, Beschluss vom 4. November 2009, a.a.O., Rn. 77).
Bewertung und Fazit
Dieses Urteil zeigt die Komplexität der rechtlichen Beurteilung von historischen Symbolen in aktuellen politischen Kontexten. Während das Gericht die Meinungsfreiheit hochhält, wirft es zugleich Fragen auf über die Verantwortung von Einzelpersonen im Umgang mit historisch beladenen Symbolen und deren Interpretation in der heutigen Zeit. Es zeigt, dass die Grenze zwischen freier Meinungsäußerung und Volksverhetzung fein und kontextabhängig ist. Das Urteil des OLG Braunschweig dient als Mahnung und Erinnerung, dass die Nutzung solcher Symbole eine tiefe Kenntnis und Sensibilität der historischen Kontexte erfordert.
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