EuGH zur kartellrechtlichen Bewertung von Gewährleistungsbedingungen bei Kfz

Mit Urteil vom 5. Dezember 2024 (Rs. C-606/23) hat der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) in einem bemerkenswerten Vorlageverfahren entschieden, dass nationale Wettbewerbsbehörden nicht den Beweis konkreter wettbewerbsbeschränkender Wirkungen erbringen müssen, um eine Vereinbarung als mit Art. 101 Abs. 1 AEUV unvereinbar einzustufen – sofern potenzielle wettbewerbsbeschränkende Wirkungen hinreichend spürbar sind. Im Zentrum stand die kartellrechtliche Bewertung von Gewährleistungsbedingungen eines Fahrzeugimporteurs, die faktisch freie Werkstätten und Drittersatzteile ausschließen.

Sachverhalt

Der Fall betrifft die KIA Auto AS, alleiniger Importeur von KIA-Fahrzeugen in Lettland, die mit autorisierten Werkstätten Gewährleistungsvereinbarungen getroffen hatte. Diese verpflichteten Fahrzeughalter, für Wartung und Reparatur ausschließlich autorisierte Vertreter und Originalersatzteile zu nutzen, um die Gewährleistung zu erhalten. Die lettische Wettbewerbsbehörde sah darin eine wettbewerbsbeschränkende vertikale Vereinbarung, da der Marktzugang unabhängiger Werkstätten und Ersatzteillieferanten beschränkt werde. Eine Geldbuße wurde verhängt.

Im Verfahren vor dem nationalen Gericht stellte sich die Frage, ob die Wettbewerbsbehörde konkrete, nachweisbare Auswirkungen auf den Wettbewerb belegen müsse – oder ob auch potenzielle Beeinträchtigungen ausreichen.

Rechtliche Würdigung

1. Klarstellung des EuGH: Auch potenzielle Wirkungen sind beachtlich

Der EuGH stellte klar, dass Art. 101 Abs. 1 AEUV nicht verlangt, dass eine bewirkte Wettbewerbsbeschränkung immer mit konkreten Marktdaten belegt wird. Vielmehr genügt es, wenn die Wettbewerbshüter potenzielle Beeinträchtigungen feststellen, die hinreichend spürbar sind.

Die Begründung:

  • Die wettbewerbsrechtliche Analyse darf nicht auf rein vergangenheitsbezogene Fakten reduziert werden.
  • Das kontrafaktische Szenario („Was wäre ohne die Vereinbarung?“) muss berücksichtigt werden.
  • Auch realistische Marktverläufe, die durch die Vereinbarung verhindert wurden, sind einzubeziehen.

2. Abgrenzung: Bezweckte vs. bewirkte Wettbewerbsbeschränkung

Der Gerichtshof unterscheidet – entsprechend der ständigen Rechtsprechung – zwei Kategorien:

  • Bezweckte Beschränkungen: Diese bedürfen keiner Wirkungskontrolle – sie sind per se verboten.
  • Bewirkte Beschränkungen: Hier kommt es auf den Nachweis von Wirkungen an, wobei diese – wie nun klargestellt – nicht realisiert, sondern nur plausibel und spürbar sein müssen.

3. Maßgeblichkeit des „Marktzugangs“

Die Garantiebedingungen, die Verbraucher faktisch dazu zwingen, Originalteile und Vertragswerkstätten zu nutzen, beeinträchtigen den Zugang unabhängiger Anbieter zu relevanten Nachfragestrukturen – und damit den Wettbewerb. Der EuGH stellt klar, dass es auf den bloßen Umstand ankommt, dass Markteintrittsbarrieren erzeugt werden, nicht darauf, ob sich diese schon statistisch abbilden.

Kontext

Die Entscheidung ist ein wichtiger Baustein im europäischen Kartellrecht und setzt die Linie jüngerer Urteile konsequent fort (u. a. „Google Shopping“, Rs. T-612/17). Insbesondere in vertikalen Vertriebssystemen wie dem selektiven Kfz-Servicebereich wird deutlich, dass Herstellerverhalten, das faktisch auf Abschottung hinausläuft, ohne messbare Marktverdrängung kartellrechtlich sanktioniert werden kann.

Auch für Garantiebedingungen in anderen Branchen (z. B. Unterhaltungselektronik, Haushaltsgeräte) dürfte das Urteil Signalwirkung entfalten.

Fazit

Der EuGH senkt die für Wettbewerbsbehörden bei vertikalen Vereinbarungen mit Marktabschottungscharakter. Es genügt, spürbare potenzielle Auswirkungen plausibel darzulegen – konkrete Marktdaten sind nicht erforderlich. Das Urteil stärkt die Effektivität kartellrechtlicher Eingriffe und mahnt Unternehmen, ihre Vertriebs- und Gewährleistungsbedingungen auch in Bezug auf indirekte Marktwirkungen kritisch zu prüfen.

Das Urteil schafft Klarheit: Auch wer „nur“ potenziell den Wettbewerb behindert, kann gegen Art. 101 AEUV verstoßen. Die Grenze zwischen berechtigtem Markenschutz und unzulässiger Marktabschottung verläuft nicht erst bei der Wirkung – sondern bereits beim Risiko.

Fachanwalt für Strafrecht & IT-Recht bei Anwaltskanzlei Ferner Alsdorf
Rechtsanwalt Jens Ferner ist Fachanwalt für Strafrecht sowie Fachanwalt für IT-Recht und widmet sich beruflich ganz der Tätigkeit als Strafverteidiger und dem IT-Recht - mit Schwerpunkten in Cybercrime, Cybersecurity, Softwarerecht und Managerhaftung. Er ist zertifizierter Experte für Krisenkommunikation & Cybersecurity; zudem Autor sowohl in Fachzeitschriften als auch in einem renommierten StPO-Kommentar zum IT-Strafprozessrecht sowie zur EU-Staatsanwaltschaft. Als Softwareentwickler ist er in Python zertifiziert und hat IT-Handbücher geschrieben.

Erreichbarkeit: Per Mail, Rückruf, Threema oder Whatsapp.

Unsere Kanzlei ist spezialisiert auf Starke Strafverteidigung, seriöses Wirtschaftsstrafrecht und anspruchsvolles IT-Recht inkl. IT-Sicherheitsrecht - ergänzt um Arbeitsrecht mit Fokus auf Managerhaftung. Von Verbrauchern werden allein Strafverteidigungen und im Einzelfall Fälle im Arbeitsrecht übernommen!
Rechtsanwalt Jens Ferner

Von Rechtsanwalt Jens Ferner

Rechtsanwalt Jens Ferner ist Fachanwalt für Strafrecht sowie Fachanwalt für IT-Recht und widmet sich beruflich ganz der Tätigkeit als Strafverteidiger und dem IT-Recht - mit Schwerpunkten in Cybercrime, Cybersecurity, Softwarerecht und Managerhaftung. Er ist zertifizierter Experte für Krisenkommunikation & Cybersecurity; zudem Autor sowohl in Fachzeitschriften als auch in einem renommierten StPO-Kommentar zum IT-Strafprozessrecht sowie zur EU-Staatsanwaltschaft. Als Softwareentwickler ist er in Python zertifiziert und hat IT-Handbücher geschrieben.

Erreichbarkeit: Per Mail, Rückruf, Threema oder Whatsapp.

Unsere Kanzlei ist spezialisiert auf Starke Strafverteidigung, seriöses Wirtschaftsstrafrecht und anspruchsvolles IT-Recht inkl. IT-Sicherheitsrecht - ergänzt um Arbeitsrecht mit Fokus auf Managerhaftung. Von Verbrauchern werden allein Strafverteidigungen und im Einzelfall Fälle im Arbeitsrecht übernommen!