Der neue Straftatbestand § 234b StGB „Verschwindenlassen von Personen“ wurde im Rahmen des Gesetzes zur Fortentwicklung des Völkerstrafrechts eingeführt, das am 6. Juni 2024 vom Bundestag beschlossen wurde. Der Gesetzgeber reagierte damit auf eine internationale Entwicklung, bei der das Verschwindenlassen von Menschen zunehmend als schwere Menschenrechtsverletzung und als Verbrechen gegen die Menschlichkeit anerkannt wird. Die Einführung des neuen Paragraphen in das deutsche Strafgesetzbuch schließt eine wichtige Lücke im nationalen Recht, die bisher nicht durch bestehende Straftatbestände abgedeckt war.
Der Hintergrund für die Schaffung des § 234b StGB ist vielfältig. Auf internationaler Ebene hatte das Römische Statut des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH-Statut) das Verschwindenlassen von Personen bereits als Verbrechen gegen die Menschlichkeit anerkannt. Das Internationale Übereinkommen zum Schutz aller Personen vor dem Verschwindenlassen (CPED) von 2006 verpflichtete die Vertragsstaaten, das Verschwindenlassen im nationalen Recht unter Strafe zu stellen. In Deutschland existierte bislang kein eigenständiger Straftatbestand, der diesen Anforderungen vollständig gerecht wurde, was vor allem in Fällen relevant wurde, in denen staatliche Akteure beteiligt waren.
Was ist das Verschwindenlassen von Personen?
Das Verschwindenlassen von Personen ist ein schwerwiegender Eingriff in die Menschenrechte, der oft von staatlichen oder staatlich unterstützten Akteuren begangen wird. Es umfasst die Freiheitsberaubung einer Person, gefolgt von der Weigerung, Informationen über deren Schicksal oder Verbleib preiszugeben.
Mit Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr wird bestraft, wer als Amtsträger oder im Auftrag oder mit Billigung eines Staates
- eine Person entführt oder sonst ihrer körperlichen Freiheit beraubt, wobei im Weiteren die Auskunft über ihr Schicksal oder ihren Verbleib verweigert wird, oder
- das Schicksal oder den Verbleib einer Person verschleiert, die von einem Amtsträger oder im Auftrag oder mit Billigung eines Staates entführt oder sonst ihrer körperlichen Freiheit beraubt worden ist, oder die Auskunft darüber verweigert,
und sie dadurch dem Schutz des Gesetzes entzieht.
Diese Praktik soll das Opfer langfristig dem Schutz des Gesetzes entziehen und ist charakteristisch für repressive Regime, die politische Gegner oder missliebige Personen zum Schweigen bringen wollen. Der Tatbestand zielt darauf ab, sowohl die direkte Freiheitsentziehung als auch die systematische Verschleierung des Schicksals des Opfers unter Strafe zu stellen.
Detaillierte juristische Ausgestaltung des § 234b StGB
Der neue § 234b StGB besteht aus zwei zentralen Tatalternativen:
- Erste Alternative (§ 234b Abs. 1 Nr. 1 StGB): Diese umfasst die Entführung oder sonstige Freiheitsberaubung einer Person durch einen Amtsträger oder auf dessen Anweisung bzw. mit Billigung des Staates, verbunden mit der nachfolgenden Verweigerung einer Auskunft über das Schicksal oder den Verbleib der betroffenen Person. Entscheidend ist hierbei, dass die Auskunftsverweigerung nicht zwingend durch den Täter der Freiheitsentziehung selbst erfolgen muss – es reicht, dass das Verhalten staatlich unterstützt wird.
- Zweite Alternative (§ 234b Abs. 1 Nr. 2 StGB): Diese erfasst das Verschleiern des Schicksals oder Verbleibs einer Person, die zuvor mit staatlicher Unterstützung ihrer Freiheit beraubt wurde. Hierbei wird speziell auf den Tatbestand der Verschleierung abgestellt, der unabhängig von einer vorangegangenen Nachfrage nach Informationen erfolgen kann.
Beide Alternativen setzen voraus, dass das Opfer tatsächlich dem Schutz des Gesetzes entzogen wurde, was bedeutet, dass die Person der rechtlichen und faktischen Möglichkeit beraubt wurde, ihre Rechte geltend zu machen.
Strafmaß und weitere Besonderheiten
Das Strafmaß für das Verschwindenlassen von Personen beträgt mindestens ein Jahr Freiheitsstrafe, wobei ein minder schwerer Fall möglich ist. Diese hohe Strafandrohung reflektiert die Schwere des Delikts, das nicht nur die Rechte des direkten Opfers verletzt, sondern auch das Vertrauen in staatliche Strukturen und die Rechtsstaatlichkeit unterminiert.
Ein wichtiger Punkt ist, dass das Gesetz keine spezielle Absicht der Täter voraussetzt, die über den allgemeinen Vorsatz hinausgeht. Der Täter muss sich lediglich der Freiheitsberaubung und der folgenden Verweigerung oder Verschleierung bewusst sein.
Zusammenhang mit Spionage und Geheimdiensttätigkeit
Das Verschwindenlassen von Personen steht in engem Zusammenhang mit Spionage und geheimdienstlichen Aktivitäten. In Fällen, in denen ausländische Geheimdienste Menschen entführen oder verschwinden lassen, um sie zu verhören oder zu bestrafen, handelt es sich oft um eine Strategie, Informationen zu erlangen oder politische Ziele zu verfolgen. Der Fall des vietnamesischen Geschäftsmanns, der 2017 in Berlin von vietnamesischen Geheimdiensten entführt wurde, ist ein prominentes Beispiel, das die Notwendigkeit eines spezifischen Straftatbestands in Deutschland unterstrichen hat.
Gesamtkontext und Bedeutung
Die Einführung des § 234b StGB ist Teil eines umfassenderen Bestrebens, den internationalen Menschenrechtsschutz im deutschen Recht zu verankern. Zusammen mit anderen Reformen des Völkerstrafrechts, wie der Anpassung des Völkerstrafgesetzbuches (VStGB), zielt diese Gesetzesänderung darauf ab, Deutschland in die Lage zu versetzen, schwerste Menschenrechtsverletzungen konsequent zu verfolgen.
Die Neuregelung verdeutlicht die Bedeutung der Prävention und Bestrafung staatlicher Übergriffe, die weit über das bloße Strafrecht hinausgeht. Sie stärkt das Vertrauen in den Rechtsstaat und sendet ein klares Signal, dass Deutschland Verbrechen wie das Verschwindenlassen von Menschen nicht toleriert, unabhängig davon, ob sie durch nationale oder internationale Akteure verübt werden. Dies ist besonders relevant in einem globalen Umfeld, in dem autoritäre Staaten und deren Geheimdienste immer wieder auf solche repressiven Maßnahmen zurückgreifen, um ihre politischen Interessen durchzusetzen.
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