Mit Urteil vom 9. Januar 2025 (1 StR 54/24) hat der Bundesgerichtshof eine bemerkenswert weitreichende Entscheidung zur Verwertbarkeit digitaler Kommunikationsdaten aus internationalen Ermittlungskooperationen getroffen. Gegenstand waren Chatnachrichten aus der „ANOM“-Operation – einem vom FBI initiierten Undercoverprojekt, bei dem manipulierte Kryptohandys an mutmaßliche Mitglieder krimineller Netzwerke verteilt wurden. Die über diese Geräte geführten Gespräche waren für die US-Behörden einsehbar, wurden aus einem europäischen Drittstaat übermittelt und gelangten schließlich auch zu deutschen Strafverfolgungsbehörden.
In dem Verfahren ging es um umfangreichen Drogenhandel. Der Angeklagte wurde in erster Instanz vom Landgericht Tübingen in 35 Fällen wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln verurteilt. In neun dieser Fälle stützte sich die Beweisführung auf ANOM-Daten. Die Revision rügte unter anderem die Verletzung von § 261 StPO wegen eines behaupteten Beweisverwertungsverbots. Der Bundesgerichtshof sah darin jedoch keinen durchgreifenden Einwand – und bekräftigte die Zulässigkeit der Nutzung solcher Daten im Strafverfahren.
ANOM, verdeckte Ermittlung und Beweisrecht
Die „Operation Trojan Shield“, besser bekannt unter dem Namen „ANOM“, war eine der aufsehenerregendsten verdeckten Maßnahmen der jüngeren Strafverfolgungsgeschichte. Das FBI hatte nach dem Scheitern vergleichbarer Plattformen wie „EncroChat“ ein eigenes, manipulierbares Kommunikationssystem entwickelt und dieses gezielt im Milieu der organisierten Kriminalität platziert. Die Kommunikation lief über eine als Taschenrechner getarnte App, deren Verschlüsselung nur zum Schein existierte.
Die Nachrichten wurden auf einem Server in einem bis heute nicht genannten EU-Mitgliedstaat gespeichert und von dort im Wege regelmäßiger Übermittlungen an das FBI weitergegeben. Über ein Rechtshilfeverfahren mit den USA gelangten die relevanten Daten dann auch zu deutschen Behörden. Die Besonderheit: Weder der konkrete europäische Staat noch dessen Gerichtsbeschlüsse zur Datensicherung wurden offengelegt. Diese Intransparenz bildete den Hauptangriffspunkt der Revision – der jedoch keinen Erfolg hatte.
Das Kernergebnis des BGH: Kein Beweisverwertungsverbot trotz Intransparenz
Der BGH prüfte sorgfältig, ob der Verwertung der ANOM-Daten ein Beweisverwertungsverbot entgegensteht. Er stellte zunächst klar, dass die Verwertung im deutschen Strafverfahren allein dem Maßstab des nationalen Rechts unterliegt – soweit der ersuchte Staat (hier: die USA) der uneingeschränkten Verwendung zugestimmt hat. Die Gerichte des ersuchenden Staates seien nicht befugt, die Rechtmäßigkeit der Maßnahmen im ersuchten Staat zu überprüfen. Insoweit gilt der völkerrechtliche Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens.
Zwar erkannte der BGH an, dass gewisse Defizite in der Transparenz bestehen – insbesondere, weil der Drittstaat nicht benannt wurde und keine gerichtlichen Anordnungen öffentlich zugänglich sind. Gleichwohl ergibt sich daraus kein Verstoß gegen rechtsstaatliche Mindeststandards. Maßgeblich sei, dass kein Eingriff in den Kernbereich privater Lebensgestaltung vorliege, die Kommunikation sich ausschließlich auf Straftaten bezog und das Vorgehen insgesamt nicht mit einer massenhaften Überwachung gleichzusetzen sei. Der Erwerb eines ANOM-Geräts sei vielmehr selbst schon ein starkes Indiz für eine kriminelle Zwecksetzung.
Der verfassungsrechtliche Rahmen: Fair Trial, Art. 10 GG und der Wesensgehalt der Grundrechte
Besonders hervorzuheben ist die detaillierte verfassungsrechtliche Auseinandersetzung des Senats. Der BGH bestätigt, dass auch der „fair trial“-Grundsatz, das Fernmeldegeheimnis und das allgemeine Persönlichkeitsrecht durch die Verwertung der Daten nicht verletzt werden. Entscheidend sei, dass weder ein „Globalangriff“ auf das Grundrecht vorliege noch der Betroffene in seiner Menschenwürde betroffen sei. Es handle sich um eine gezielte Maßnahme mit konkretem Anfangsverdacht – nicht um eine pauschale Überwachung. Selbst der Umstand, dass der Angeklagte keine Möglichkeit zur gerichtlichen Anfechtung der Maßnahme hatte, führe nicht zur Unverwertbarkeit: Ein solcher Rechtsweg sei bei internationalen verdeckten Maßnahmen ohnehin häufig nicht vorhanden und könne auch verfassungsrechtlich nicht verlangt werden.
Insgesamt betonte der Senat das hohe Gewicht des staatlichen Aufklärungsinteresses – insbesondere im Bereich schwerer Straftaten der organisierten Kriminalität. Diese rechtfertige auch eine gewisse Einschränkung des individuellen Rechtsschutzes, solange der Wesensgehalt der Grundrechte unangetastet bleibe.
Auswirkungen auf die Rechtspraxis: ANOM, EncroChat und darüber hinaus
Das Urteil steht in einer Linie mit der bisherigen Rechtsprechung zur Verwertung von EncroChat-Daten und zeigt, dass der Bundesgerichtshof an seiner grundsätzlichen Aufklärungsorientierung festhält. Das Vertrauen in die Kooperationsstaaten und deren rechtsstaatliche Verfahren bildet den Grundpfeiler dieser Linie. Gleichzeitig stärkt die Entscheidung die Handlungsfähigkeit der Ermittlungsbehörden in einer zunehmend digitalen und transnationalen Kriminalitätslandschaft.
Gleichwohl lässt sich nicht übersehen, dass die Grenzen zwischen verfassungsrechtlich zulässiger Verwertung und systemischer Intransparenz dünn verlaufen. Die Praxis lebt derzeit davon, dass keine konkreten Hinweise auf schwerwiegende Rechtsverletzungen vorliegen – nicht davon, dass die zugrundeliegenden Verfahren offen oder überprüfbar wären. Die Entscheidung enthält deshalb ein implizites Risiko: Sollte künftig einmal ein kooperierender Drittstaat tatsächlich grobe Verstöße begehen, müsste sich die deutsche Justiz mit ihrer bisherigen Vertrauensvermutung neu auseinandersetzen.
Schlussbetrachtung
In der Kernaussage bestätigt der Bundesgerichtshof mit seinem Urteil die Verwertbarkeit von ANOM-Daten auch bei nicht völlig transparenter internationaler Erhebung. Das Urteil ist ein weiterer Mosaikstein in der juristischen Bewältigung digitaler Ermittlungstechnologien – und es markiert die fortschreitende Normalisierung digitaler Beweise aus verdeckten Operationen, auch wenn deren Ursprung außerhalb des deutschen Justizsystems liegt.
Dabei bleibt es ein Balanceakt zwischen rechtsstaatlichem Rechtsschutz und effektiver Strafverfolgung: Der Zugriff auf verschlüsselte Kommunikationsstrukturen ist für die Strafjustiz essenziell – aber rechtliche Anforderungen dürfen dabei nicht auf Dauer hinter operationalen Interessen verschwinden. Umso wichtiger ist eine offene, sachliche Diskussion darüber, wie sich Transparenz und Effektivität künftig in Einklang bringen lassen. Das Urteil des BGH ist kein Freifahrtschein – aber ein deutliches Signal: Wer unter dem Schutz der Verschlüsselung mit Kokain und Kiloweise Cannabis handelt, darf sich auf diesen Schutz im Ernstfall nicht berufen.
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