Die Entscheidung des Bundesgerichtshofs (Beschl. v. 16.04.2025 – StB 69/24) zur Eröffnung des Hauptverfahrens gegen eine mutmaßliche Unterstützerin des NSU-Trios betrifft eine zentrale dogmatische Frage des Strafprozessrechts: Wann ist ein hinreichender Tatverdacht im Sinne des § 203 StPO anzunehmen, und in welchem Umfang darf das Gericht des Zwischenverfahrens eine eigene Beweiswürdigung anstellen?
Die Bedeutung der Entscheidung liegt weit über den konkreten Fall hinaus. Sie präzisiert das Verhältnis zwischen Vorprüfung und Beweiswürdigung, zwischen dem Erfordernis der richterlichen Prognose und der Unschuldsvermutung sowie zwischen Erkenntnissen der Ermittlungsbehörden und der eigenständigen Rolle des Gerichts im Zwischenverfahren.
Sachverhalt
Die Angeklagte war enge Vertraute der mittlerweile rechtskräftig verurteilten NSU-Terroristin Z. und unterstützte das Trio in mehreren Fällen. Sie stellte ihre Identität für Arztbesuche zur Verfügung, ermöglichte die Nutzung ihrer Personalien zur Beantragung von Bahnkarten und war im Herbst 2011 an der Organisation eines Wohnmobils beteiligt, das kurz darauf bei einem bewaffneten Raubüberfall verwendet wurde. Die Generalbundesanwaltschaft sah hierin drei Fälle der Unterstützung einer terroristischen Vereinigung und erhob Anklage vor dem OLG Dresden.
Das Oberlandesgericht eröffnete das Verfahren lediglich in eingeschränkter Form: Hinsichtlich zweier Taten wurde die Eröffnung mangels hinreichenden Tatverdachts abgelehnt, für die dritte Tat wurde lediglich Beihilfe zur besonders schweren räuberischen Erpressung bejaht. Die übrigen Vorwürfe seien verjährt oder nicht mit dem erforderlichen Verdachtsgrad beweisbar. Dagegen wandte sich der Generalbundesanwalt erfolgreich mit einer sofortigen Beschwerde. Der BGH hob die Entscheidung des OLG auf und ließ die Anklage in vollem Umfang zur Hauptverhandlung zu.
Dogmatische Einordnung des hinreichenden Tatverdachts
Der hinreichende Tatverdacht gemäß § 203 StPO ist der zentrale Maßstab im Zwischenverfahren. Nach ständiger Rechtsprechung ist er gegeben, wenn auf Grundlage der Ermittlungsergebnisse eine Verurteilung mit Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist. Dies bedeutet nicht die volle richterliche Überzeugung, sondern ein gegenüber dem dringenden Tatverdacht (§ 112 StPO) niedrigeres Wahrscheinlichkeitsniveau. Die Schwelle liegt dort, wo die Möglichkeit der Verurteilung nicht rein spekulativ ist, sondern tatsächliche Anhaltspunkte für eine belastbare Anklage gegeben sind.
Entscheidend ist, dass das Zwischenverfahren der Filterung offensichtlich aussichtsloser Verfahren dient – nicht aber der antizipierenden Beweiswürdigung. Gerade bei subjektiven Tatbestandsmerkmalen, etwa dem Vorsatz oder spezifischem Wissen des Täters, darf das Gericht eine Beweisaufnahme nicht durch überzogene Anforderungen an den Verdachtsgrad präjudizieren.
Kritik an der Ablehnungsentscheidung des OLG Dresden
Der BGH wirft dem Oberlandesgericht vor, in unzulässiger Weise eine detaillierte Beweiswürdigung vorgenommen und damit die Grenzen des Zwischenverfahrens überschritten zu haben. Die Annahme, der Angeklagten habe das terroristische Ziel des NSU nicht erkennbar sein können, sei mit Blick auf die Vielzahl von Indizien nicht haltbar.
Der Senat hebt hervor, dass das besonders enge Verhältnis zwischen der Angeklagten und der NSU-Terroristin Z., die konspirative Kommunikation, die Nutzung ihrer Personalien für medizinische und logistische Zwecke sowie das Verhalten nach dem letzten NSU-Anschlag eine Gesamtschau begründen, aus der mit hinreichender Wahrscheinlichkeit auf ein Wissen um die Mordtaten geschlossen werden kann. Diese Indizien seien nicht isoliert, sondern im Zusammenhang zu würdigen. Es sei Aufgabe der Hauptverhandlung, etwaige Widersprüche oder Schutzbehauptungen aufzuklären.
Zudem weist der BGH darauf hin, dass gerade bei inneren Tatsachen wie Wissen und Wollen nur selten unmittelbare Beweise vorliegen können. Vielmehr müsse das Gericht Rückschlüsse aus äußerem Verhalten, Konstellationen von Näheverhältnissen und situativem Handeln ziehen. Die Grenze zur freien richterlichen Überzeugungsbildung wird dadurch nicht überschritten, sondern gerade durch den Verweis in die Hauptverhandlung gewahrt.
Zur Rolle des Beschwerdegerichts und Umfang der Prüfung
Der Senat betont, dass das Beschwerdegericht das Wahrscheinlichkeitsurteil des Untergerichts in vollem Umfang nachzuprüfen hat. Es ist nicht auf eine Plausibilitätskontrolle beschränkt, sondern muss die Anklagevorwürfe eigenständig unter dem Maßstab des § 203 StPO würdigen. Dies gilt insbesondere, wenn – wie hier – die Staatsanwaltschaft eine zu geringe Verdachtsannahme rügt und auf die originäre Zuständigkeit des Oberlandesgerichts abstellt (§ 120 Abs. 1 Nr. 6 GVG).
In diesem Kontext stellt der BGH klar, dass eine ablehnende Eröffnungsentscheidung nur dann gerechtfertigt ist, wenn die Verurteilung praktisch ausgeschlossen erscheint. Ein etwaiges Abstellen auf vermeintlich „unsichere“ oder „nicht zweifelsfrei belastende“ Indizien verkennt den prozessualen Zweck des Zwischenverfahrens.
Die Entscheidung des Bundesgerichtshofs liefert eine überzeugende Klärung des Maßstabs für den hinreichenden Tatverdacht im Zwischenverfahren. Sie stellt klar, dass das Gericht die Schwelle zur Hauptverhandlung nicht durch vorweggenommene Beweiswürdigung überhöhen darf und gerade bei Indiztatsachen dem Hauptverfahren die finale Klärung überlassen bleiben muss. Der Beitrag der Entscheidung liegt darin, dass sie eine dogmatisch kohärente und prozessual praktikable Linie für die Eröffnungsentscheidung vorgibt – mit Bedeutung für alle Strafverfahren, in denen es auf die Bewertung subjektiver Elemente ankommt.
Praktische und prozessuale Implikationen
Die Entscheidung des BGH wirkt weit über den Einzelfall hinaus. Sie stärkt die Position der Anklagebehörden im Zwischenverfahren und fordert eine Zurückhaltung der Gerichte bei der antizipierenden Beweiswürdigung. Die Schwelle zur Hauptverhandlung wird nicht abgesenkt, aber auf ihre eigentliche Funktion beschränkt: die Prüfung, ob eine Verurteilung „nicht unwahrscheinlich“ ist. Dies gilt umso mehr bei Delikten von besonderem Gewicht, wie der Unterstützung terroristischer Vereinigungen.
Auch verdeutlicht die Entscheidung die Wechselwirkung zwischen prozessualer Ökonomie und der Wahrung der Unschuldsvermutung: Eine zu frühe negative Bewertung durch das Zwischenverfahren birgt die Gefahr, belastbare Verfahren ohne zureichende Hauptverhandlung zu beenden.
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