OLG Hamm zur Reichweite des § 485 Abs. 2 Nr. 1 ZPO: Im Zentrum des Beschlusses des Oberlandesgerichts Hamm vom 3. Mai 2013 (Az. 11 W 25/13) steht eine grundsätzliche Klärung zur Reichweite des selbständigen Beweisverfahrens nach § 485 ZPO: Die Feststellung eines entgangenen Gewinns – also eines hypothetischen Vermögensschadens – fällt nicht unter den Anwendungsbereich des § 485 Abs. 2 Nr. 1 ZPO.
Das Gericht lehnt eine analoge Anwendung der Vorschrift ab und verweist dabei auf den eindeutigen Wortlaut und die Systematik des Gesetzes. Die Entscheidung hat praktische Relevanz für alle Fälle, in denen Geschädigte die Klärung vermögensbezogener Schadensposten im Vorfeld eines streitigen Verfahrens herbeiführen wollen.
Der Sachverhalt
Der Antragsteller, ein Radiologe, begehrte die Durchführung eines selbständigen Beweisverfahrens zur Frage der Höhe des ihm infolge einer fehlerhaften Mitteilung über die Arztanzahl im Planungsbereich entgangenen Gewinns. Hintergrund war eine – inzwischen gerichtlich festgestellte – Amtspflichtverletzung der zuständigen Behörde, die zur Versagung einer Vollzulassung als Vertragsarzt geführt hatte. Der Radiologe begehrte nun im Vorfeld eines weiteren Schadensersatzprozesses die Einholung eines Sachverständigengutachtens über den hypothetisch entgangenen Gewinn. Dabei argumentierte er, es handle sich um die Feststellung des Werts einer Sache im Sinne von § 485 Abs. 2 Nr. 1 ZPO, nämlich seiner Praxis.
Sowohl das Landgericht Bielefeld als auch das OLG Hamm wiesen das Begehren zurück.
Die rechtliche Würdigung
Das OLG Hamm stellt klar, dass der Begriff des „Wertes einer Sache“ im Sinne von § 485 Abs. 2 Nr. 1 ZPO restriktiv auszulegen ist. Gemeint sind nur gegenwärtige, objektivierbare Zustände und Werte tatsächlich existierender Sachen – nicht jedoch hypothetische, vergangenheits- oder zukunftsbezogene Entwicklungen im Vermögensbereich. Das Anliegen des Antragstellers ziele auf die hypothetische Bewertung entgangener Gewinne im Zusammenhang mit einer fiktiv gewährten Kassenarztzulassung, nicht jedoch auf die Bewertung einer konkreten Praxis oder eines tatsächlich vorhandenen Wirtschaftsguts. Selbst wenn eine Arztpraxis als Sachgesamtheit gelten könne, so betraf der Beweisantrag nicht den gegenwärtigen Wert dieser Praxis, sondern ein alternatives, nie realisiertes Szenario: den wirtschaftlichen Erfolg bei hypothetisch anderer rechtlicher Ausgangslage.
Maßgeblich für die Abgrenzung ist für das OLG der gesetzliche Zweck des selbständigen Beweisverfahrens: Es soll zur Sicherung konkreter Beweismittel dienen – nicht zur Erkundung hypothetischer Schadenskonstellationen. Eine Erweiterung des § 485 Abs. 2 Nr. 1 ZPO auf Vermögensschäden sei auch im Wege der Analogie ausgeschlossen. Der Gesetzgeber habe bewusst nur bestimmte Feststellungsziele (Zustand, Mangel, Wert einer Sache, Verletzung einer Person) erfasst. Eine teleologische Erweiterung, die auch abstrakte wirtschaftliche Bewertungen umfasse, würde den klaren Wortlaut unterlaufen und den Ausnahmecharakter des Verfahrens entwerten.
Das Gericht hebt hervor, dass auch die Voraussetzungen des § 485 Abs. 1 ZPO nicht gegeben seien. Es sei nicht ersichtlich, dass ein Beweismittel – hier etwa Dokumente oder Zahlenreihen – in Verlust zu geraten oder seine Benutzung wesentlich erschwert zu werden drohe. Der Antragsteller könne durch eigene Dokumentationspflichten selbst dafür Sorge tragen, dass die wirtschaftlichen Kennzahlen erhalten bleiben. Der bloße Zeitablauf reiche als Begründung für die Besorgnis eines Beweisverlustes nicht aus.
Zur Zulassung der Rechtsbeschwerde
Die Entscheidung ist nicht rechtskräftig, das OLG Hamm hat die Rechtsbeschwerde wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassen. Die Frage, ob § 485 Abs. 2 ZPO auf Vermögensschäden analog anwendbar ist, sei bislang nicht höchstrichterlich entschieden worden und betreffe eine Vielzahl denkbarer Fälle, in denen wirtschaftliche Schadensfolgen rechtlich aufgearbeitet werden sollen, bevor ein streitiger Prozess geführt wird.
Fazit
Das OLG Hamm bekräftigt mit dieser Entscheidung die enge, wortlautgetreue Auslegung des § 485 Abs. 2 Nr. 1 ZPO und setzt der Ausdehnung des selbständigen Beweisverfahrens auf hypothetische Vermögensschäden enge dogmatische Grenzen. Wer entgangene Gewinne oder sonstige ökonomische Folgeschäden geltend machen will, ist auf das Erkenntnisverfahren mit vollständiger Anspruchsbegründung verwiesen. Die Entscheidung dient der Konturenschärfung des Beweisverfahrensrechts und schützt die Ziviljustiz vor seiner missbräuchlichen oder überdehnten Inanspruchnahme als Gutachtensinstanz für ungeklärte wirtschaftliche Fragen. Damit unterstreicht das Gericht den Sicherungscharakter des Verfahrens – nicht dessen Eignung zur vorbereitenden Schätzung komplexer Vermögenssachverhalte.
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