In einem aktuellen Beschluss (1 StR 340/23 vom 13. Dezember 2023) hat der Bundesgerichtshof (BGH) wichtige Klarstellungen zur antizipierenden Würdigung von Beweisanträgen vorgenommen. Dieses Urteil befasst sich mit der Ablehnung eines Beweisantrags und den damit verbundenen Anforderungen an die Begründung des Ablehnungsbeschlusses.
Hintergrund des Falles
In einem Verfahren vor dem Landgericht Ingolstadt hatte der Angeklagte beantragt, ein Sachverständigengutachten einzuholen, um zu klären, ob auch Scheinerinnerungen zu „Trauma im Sinne einer posttraumatischen Belastungsstörung“ oder zu Nacherinnerungen („Flashbacks“) führen können. Das Landgericht lehnte diesen Antrag ab und begründete dies damit, dass diese Frage für die Entscheidung bedeutungslos sei, wenn die Nebenklägerin sich die Vorwürfe nur einbildete, da dann bereits daraus folge, dass der Angeklagte freizusprechen sei.
Entscheidung des BGH
Der BGH hob das Urteil auf und wies darauf hin, dass die Ablehnung eines Beweisantrags ausführlich begründet werden muss. Insbesondere muss das Gericht in einer antizipierenden Würdigung darlegen, warum es annimmt, dass selbst bei Bewährung der unter Beweis gestellten Tatsache keine andere Entscheidung zu treffen wäre:
Das Tatgericht darf Indiz- oder Hilfstatsachen als für die Entscheidung tatsächlich bedeutungslos erachten (§ 244 Abs. 3 Satz 3 Nr. 2 StPO), wenn es aus diesen eine mögliche Schlussfolgerung, die der Antragsteller erstrebt, nicht ziehen will. Das Tatgericht hat die unter Beweis gestellte Tatsache so, als sei sie erwiesen, in das aufgrund der bisherigen Beweisaufnahme erlangte Beweisergebnis einzustellen und im Wege einer prognostischen Betrachtung zu prüfen, ob hierdurch seine bisherige Überzeugung – gegebenenfalls in Anwendung des Zweifelsatzes – in einer für den Schuld- oder Rechtsfolgenausspruch bedeutsamen Weise erschüttert würde.
Diese antizipierende Würdigung ist in dem den Antrag ablehnenden Beschluss (§ 244 Abs. 6 Satz 1 StPO) näher darzulegen. Denn dieser hat insbesondere den Antragsteller, aber auch die anderen Verfahrensbeteiligten, über die Auffassung des Tatgerichts zu unterrichten, sodass er sich auf die neue Verfahrenslage einstellen und das Gericht doch noch von der Erheblichkeit der Beweistatsache überzeugen oder aber neue Anträge mit demselben Beweisziel stellen kann („formalisierter Dialog“). Zudem muss der Ablehnungsbeschluss dem Revisionsgericht die Prüfung ermöglichen, ob der Beweisantrag rechtsfehlerfrei zurückgewiesen worden ist sowie ob seine Feststellungen und Schlussfolgerungen mit denjenigen des Urteils übereinstimmen.Faktisch hat das Tatgericht damit den betreffenden Ausschnitt aus der Beweiswürdigung, die es an sich erst im Urteil darzulegen hat, bereits in der Hauptverhandlung offenzulegen; freilich kann und muss die Beschlussbegründung in laufender Hauptverhandlung angesichts der Vorläufigkeit der Einschätzung in der Regel weder die Ausführlichkeit noch die Tiefe der Beweiswürdigung der späteren Urteilsgründe aufweisen; die wesentlichen Hilfstatsachen sind jedenfalls in Grundzügen mitzuteilen
Der BGH kritisiert, dass das Landgericht die Bedeutung der angebotenen Beweistatsache nicht in der gebotenen Weise in seine Überzeugungsbildung eingestellt und nicht dargelegt hat, aufgrund welcher anderen Tatsachen es die Glaubhaftigkeit der Zeugin und die Glaubwürdigkeit ihrer Aussage annimmt.
Auswirkungen der Entscheidung
Diese Entscheidung unterstreicht die Notwendigkeit für Gerichte, die Ablehnung von Beweisanträgen sorgfältig zu begründen. Sie betont die Bedeutung des Dialogs zwischen Gericht und Verteidigung im Rahmen der Beweisführung und hebt hervor, dass das Gericht nicht nur den Antragsteller, sondern auch das Revisionsgericht in die Lage versetzen muss, die Entscheidung nachzuvollziehen.
Fazit
Die Entscheidung des BGH in der Sache 1 StR 340/23 verdeutlicht die hohen Anforderungen an die Begründungspflicht bei der Ablehnung von Beweisanträgen. Sie dient als Mahnung an die Gerichte, bei der Ablehnung von Beweisanträgen eine umfassende und vorausschauende Prüfung vorzunehmen, um die Rechte der Angeklagten zu wahren und die Fairness des Verfahrens zu sichern.
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