Ich bin immer wieder überrascht, wie viel Gerichte im Strafprozess verlesen möchten, in der Hoffnung, Vorstrafen ordnungsgemäß festzustellen. Wenn ich dann mal nachfrage, warum konkret gerade aus einer Vorstrafenakte von vor 10 Jahren verlesen wird, wird regelmässig überrascht reagiert und allenfalls ein „Weil das OLG das so will“ erwidert. Dass das falsch ist, sollte sich dabei schon aufdrängen, weil der BGH ja gerade zu umfangreiche Feststellungen gerne rügt und dazu zwingt, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren.
Vorstrafen in der Strafzumessung
Damit ich nicht falsch verstanden werden: Natürlich ist es so, dass etwa auch das OLG Köln verlangt, dass wenn im Rahmen einer Strafzumessung Vorbelastungen eines Angeklagten mitberücksichtigt werden sollen, dies voraussetzt, dass der Tatrichter diese im Urteil so genau mitteilt, dass dem Revisionsgericht die Nachprüfung ermöglicht wird, ob sie im Hinblick auf ihre Bedeutung und Schwere für die Strafzumessung richtig bewertet worden sind. Mit ständiger Rechtsprechung des OLG Köln gilt hier: Neben dem Zeitpunkt der Verurteilung und der Art und der Höhe der Strafen sind daher in der Regel die den als belastend eingestuften Vorverurteilungen zugrunde-liegenden Sachverhalte zwar knapp, aber doch in einer aussagekräftigen Form zu umreißen.
Aber das heisst doch gerade nicht, dass man nun alles noch und nöcher verliest, so dass selbst die kleinste Berufungshauptverhandlung plötzlich 90 Minuten dauert, weil aus irgendwelchen Jugendstrafakten verlesen wird! Insoweit ist ja schon schlicht an den Gesetzestext zu erinnern.
OLG Frankfurt: Fasst euch kurz – und lasst Copy&Paste weg!
Sehr schön auf den Punkt bringt es eine Entscheidung des OLG Frankfurt, in der man dazu liest:
Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs und des erkennenden Senats (vgl. Urteil vom 19. Juni 2007 – 2 Ss 138/07; Beschluss vom 15. Dezember 2004 – 2 Ss 382/04), sollen sich die Urteilsgründe vielmehr auf das Wesentliche beschränken. Dies bedeutet für die Vorstrafen, dass sie nur in dem Umfang und in denjenigen Einzelheiten mitzuteilen sind, in denen sie für die getroffene Entscheidung von Bedeutung sind (st. Rspr., vgl. BGHR StPO § 267 Abs. 3 Satz 1 Strafzumessung 13 und 16; BGH, Beschluss vom 10. September 2003 – 1 StR 371/03; Senat aaO). Dies wiederum ist eine Frage des jeweiligen Einzelfalles (vgl. BGH, Beschluss vom 20. Juni 2001 – 3 StR 202/01). Sind – wie hier – nur Zahl, Frequenz, Höhe, Einschlägigkeit und Verbüßung der Vorstrafen für die Strafbemessung beachtlich, genügt es, die entsprechenden Tatsachen in das Urteil aufzunehmen.
Der Mitteilung von Einzelheiten der Urteilssachverhalte bedarf es dann nicht (BGHR StPO § 267 Abs. 3 Satz 1 Strafzumessung 13 und 16; BGH, Beschluss vom 20. Juni 2001 – 3 StR 202/01; Senat, Urteil vom 19. Juni 2007 – 2 Ss 138/07). Vielmehr ist bei der Darstellung der Vorstrafen die Mitteilung der zu diesen jeweils getroffenen Feststellungen zur Sache sogar überflüssig, soweit sich aus diesen Tatsachen keine Folgerungen für die zu entscheidende Sache ergeben (BGH, Beschluss vom 17. Dezember 2003 – 5 StR 504/03). Die häufig zu beobachtende Praxis, entweder den Bundeszentralregisterauszug in die Urteilsgründe hineinzukopieren und/oder seitenlang im Wortlaut frühere Urteilsgründe einzurücken oder vollständig wiederzugeben, obwohl es auf deren genaue Feststellungen nicht ankommen kann, ist verfehlt (BGHR StPO § 267 Darstellung 1; BGH NStZ-RR 1996, 266 ; BGH Beschluss vom 20. Juni 2001 – 3 StR 202/01).
OLG Frankfurt, 2 Ss 150/08
Abgesehen davon, dass man hier auf eine BGHR-Fundstelle (mithin gefestigte Rechtsprechung) verweist, kann man genau dies inzwischen in jedem Kommentar nachlesen. Insoweit verweise ich mit Nachdruck insbesondere auf die Kommentierung im Münchener Kommentar, §243. Rn.76/77.
Fazit: Verlesen zur Feststellung ja – aber nur wo es sinnvoll ist
Es kommt im Ergebnis – wie immer – drauf an, nämlich darauf, was dem erkennenden Gericht wichtig ist:
- Soll schlicht eine erhebliche Anzahl von Vorbelastungen in die Strafzumessung einfliessen, wird man sich mit dem BZR-Auszug begnügen können, dem im Übrigen auch Feststellungen zu „durchgestandenen“ Bewährungen zu entnehmen sind (die auch in den Feststellungen stehen sollten);
- Sollen dagegen einzelne Taten wegen Ihrer Einschlägigkeit oder gar eines „modus Operandi“ berücksichtigt werden, wird man nicht umhin kommen, Feststellungen zu den jeweiligen Tatbegehungen in Form eines Verlesens aus den damaligen Urteilsgründen zu treffen.
Hinweis: Sofern das OLG Köln immer wieder darauf verweist, dass bei „als belastend eingestuften Vorverurteilungen die zugrunde-liegenden Sachverhalte zwar knapp, aber doch in einer aussagekräftigen Form zu umreißen“ sind, ist dies gerade nicht so zu verstehen, dass man alle Vorverurteilungen Feststellungen muss! Vielmehr macht das OLG durch die Verwendung des bestimmten Artikels klar, dass dies entsprechend der obigen Liste nur bei den Vorstrafen gilt, die man hervorgehoben im Einzelfall berücksichtigen möchte!
Als Verteidiger dürfte es sinnvoll sein, diesen Aspekt wieder in den Vordergrund zu rücken und insbesondere eine faktische Vorverurteilung zu verhindern – nachdem die Schöffen sich X-Urteilsfeststellungen aus Jahren früherer Verurteilungen angehört haben, was soll da an Boden noch bleiben, um über die aktuelle Tat zu diskutieren? Wenn man mit einem Eigentumsdelikt in de Berufung sitzt, macht die Verlesung der Feststellungen zu einem Fahrerlaubnisdelikt von vor 10 Jahren schlicht keinen Sinn (und sollte verhindert werden).
- Captagon im deutschen Strafrecht: Ein Überblick - 8. Oktober 2024
- Perfctl: Neue, heimtückische Malware, die Millionen von Linux-Servern bedroht - 7. Oktober 2024
- Datenschutzverstöße durch E-Mail-Weiterleitung: Haftungsrisiken für Geschäftsführer - 6. Oktober 2024