Wann trifft einen Jugendamtsmitarbeiter eine Garantenpflicht bei Kindeswohlgefährdung? Grundsätzlich gilt, dass auch einen Jugendamtsmitarbeiter eine Garantenstellung als Beschützergarant aus tatsächlicher Schutzübernahme treffen kann (so OLG Stuttgart, 1 Ws 78/98 und Landgericht Arnsberg, 3 Ns-411 Js 274/16-101/17). Doch es kommt auf die Details an.
Garantenpflicht für Jugendamtsmitarbeiter
Das OLG Stuttgart stellt darauf ab, dass für die soziale Arbeit im Aufgabenbereich des Jugendamts kennzeichnend sei, dass der für eine – auch unvollständige – Problemfamilie zuständige Sozialarbeiter im Rahmen eines längerfristigen Arbeits- und Betreuungszusammenhangs tatsächlich den Schutz der (mit-)betreuten Kinder übernehme und ihm daher aus der eigenen, von ihm übernommenen Aufgabenerfüllung eine Garantenpflicht aus tatsächlicher Schutzübernahme erwachse.
Die Rolle als Beschützergarant soll dabei im Hinblick auf wichtige Rechtsgüter des Kindes wie Leib oder Leben, Freiheit und sexuelle Integrität bestehen, die sich trotz des grundgesetzlich verankerten Elternrechts ergebe, da die öffentliche Jugendhilfe oder der von ihr beauftragte Träger der freien Jugendhilfe aufgrund des Wächteramts des Staates verpflichtet sei, das körperliche, geistige und seelische Wohl von (mit-)betreuten Kindern auch vor rechtsgutsverletzendem Verhalten der Eltern oder eines Elternteils zu schützen. Insgesamt steht die Rechtsprechung auf dem Standpunkt, dass eine Garantenstellung grundsätzlich im Raum steht (so auch OLG Oldenburg, Ss 249/96; OLG Dresden, 2 OLG 21 Ss 835/15, OLG Stuttgart, 1 Ws 78/98 und Landgericht Arnsberg, 3 Ns-411 Js 274/16-101/17).
Schwierig ist der konkrete Zeitpunkt des Entstehens einer Garantenpflicht, da es hier jeweils auf die Umstände des Einzelfalles ankommt. Man mag (frühestens) auf den Zeitpunkt der Übernahme der Betreuung abstellen, jedenfalls kurz nach Übertragung der Tätigkeit dürfte es (spätestens) vorliegen.
Jens Ferner
StrafverteidigerWann liegt eine Kindeswohlgefährdung vor?
Eine Kindeswohlgefährdung liegt vor, wenn eine gegenwärtige oder zumindest unmittelbar bevorstehende Gefahr für die Kindesentwicklung abzusehen ist, die bei ihrer Fortdauer eine erhebliche Schädigung des körperlichen, geistigen oder seelischen Wohls des Kindes mit ziemlicher Sicherheit voraussehen lässt. Insbesondere eine Unter- oder Mangelernährung ist eine Kindeswohlgefährdung – hierbei handelt es sich um eine gegenwärtige Gefahr für die Kindesentwicklung, die bei ihrer Fortdauer eine erhebliche Schädigung des körperlichen Wohls des Kindes voraussehen lässt (OLG Dresden, 21 Ss 835/15).
Dringend ist diese Gefahr, wenn eine tatsächliche Beeinträchtigung des körperlichen, geistigen und/oder seelischen Wohls des Kindes/Jugendlichen unmittelbar bevorsteht. In der Frage, ob eine Kindeswohlgefahr dringend ist, besteht für das Jugendamt ein Beurteilungsspielraum. Die Annahme einer dringenden Kindeswohlgefahr erfordert unter dem Aspekt ihres prognostischen Aussagegehalts eine nicht nur begründete, sondern eine hohe Wahrscheinlichkeit dafür, dass eine tatsächliche Beeinträchtigung des Kindeswohls unmittelbar bevorsteht, also die hohe Wahrscheinlichkeit besteht, dass die festgestellte Kindeswohlgefahr ohne Maßnahmen ungehindert in eine tatsächliche Beeinträchtigung des körperlichen, geistigen und seelischen Kindeswohls übergeht und umschlägt.
Pflichtwidriges Verhalten
Ein pflichtwidriges Verhalten liegt vor, wenn die nach § 8a Abs. 1 S. 1 SGB VIII gebotene Einschätzung des Gefährdungsrisikos pflichtwidrig unterlassen wurde: Nach § 8a Abs. 1 S. 1 SGB VIII ist eine Einschätzung des Gefährdungsrisikos vorzunehmen, wenn gewichtige Anhaltspunkte für die Gefährdung des Wohls eines Kindes oder Jugendlichen dem Jugendamt bekannt werden. Derartige Anhaltspunkte sind tatsächliche Umstände, die auf eine Kindeswohlgefährdung hindeuten.
Nicht erforderlich ist, dass jeder Anhaltspunkt für sich genommen bereits eine Kindeswohlgefährdung indiziert. Es genügt vielmehr, dass durch das Hinzutreten weiterer ggf. gefährdungsrelevanter Umstände ein Gesamtkomplex von Anhaltspunkten entsteht, der dann in summa auf eine Kindeswohlgefährdung verweist. Regelmäßig bedarf es einer Gesamtwürdigung aller bekannt gewordenen Anhaltspunkte, um deren Indizwert für das Vorliegen einer Kindeswohlgefährdung erfassen zu können.
Die Anhaltspunkte müssen dem Jugendamt auch bekannt werden. Wenn Anhaltspunkte gar nicht erst bekannt werden, ist keine Grundlage für eine strafrechtliche Verantwortlichkeit gegeben (OLG Karlsruhe, 1 Ws 242/13). Für eine strafrechtliche Verantwortlichkeit müssen diese jedenfalls in der Folge der zuständigen Fachkraft bekannt werden. Die Art und Weise, wie diese Anhaltspunkte dem Jugendamt bekannt werden und ebenso die Form, in der sie bekannt werden, ist unerheblich. Anhaltspunkte können sich deshalb aus mündlichen, schriftlichen, telefonischen, elektronischen und auch anonymen Hinweisen, Mitteilungen, eigenen oder fremden akustischen, optischen oder sonstigen sinnlichen Wahrnehmungen oder anderweitigen Informationen ergeben. Erforderlich ist allein, dass diese Informationen zumindest teilweise tatsachengestützt sind. Gewichtig und damit ausreichend konkret sind Anhaltspunkte nur dann, wenn sich an die fachliche Beurteilung die gebotene Einschätzung des Gefährdungsrisikos ohne weitere Zwischenschritte anschließen lässt.
Bei der Frage, ob die bekannt gewordenen Anhaltspunkte für eine Kindeswohlgefährdung gewichtig sind, steht der Fachkraft des Jugendamts ein Beurteilungsspielraum zu. Im Rahmen des ihr prärogativ eingeräumten Beurteilungsspielraums muss sie zu der Erkenntnis gelangen, dass nach vorläufiger fachlicher Beurteilung des bekannt gewordenen Tatsachenmaterials die Gefährdung des Wohls eines Kindes oder Jugendlichen nicht ausgeschlossen erscheint. Anhaltspunkte sind deshalb auch dann gewichtig, wenn eine Kindeswohlgefährdung nach fachlicher Beurteilung zwar nicht nahe liegt, im Sinne einer begründeten Wahrscheinlichkeit aber – wenn auch entfernt – möglich erscheint.
Ist sodann ein Beurteilungsspielraum eröffnet, in dessen Rahmen möglicherweise mehrere gleichermaßen als rechtlich vertretbar bewertbare Entscheidungen hätten getroffen werden können, ist eine im Ergebnis falsche Prognose nur dann pflichtwidrig, wenn sie auf relevant unvollständiger Tatsachengrundlage oder auf einer unrichtigen Bewertung der festgestellten Tatsachen beruht (siehe BGH, 5 StR 327/03).
Verantwortlichkeit
Ein Unterlassen ist dann ursächlich, wenn die gebotene Handlung nicht hinzugedacht werden kann, ohne dass der tatbestandliche Erfolg mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit entfällt – doch wie geht man damit um, dass regelmäßig neben ode zeitlich vor dem Jugendamtsmitarbeiter eine andere Person, speziell ein Elternteil, selbstständig gehandelt hat?
Hier gilt, dass einer Zurechenbarkeit nicht das Verantwortungsprinzip entgegensteht, weil etwa ein Elternteil für den Tod des Kindes strafrechtlich im Sinne einer Körperverletzung mit Todesfolge verantwortlich wäre. Zwar hat nach dem Verantwortungsprinzip jeder sein Verhalten grundsätzlich nur darauf einzurichten, dass er selbst Rechtsgüter nicht gefährdet, nicht aber auch darauf, dass andere dies nicht tun. Liegt aber eine Garantenpflicht vor, nach der er selbst für die Unversehrtheit eines Rechtsguts verantwortlich ist, überlagert diese Garantenpflicht das Verantwortungsprinzip. Und genau dies liegt hier ja auch vor, denn die den Jugendsamtmitarbeiter treffende Garantenpflicht besteht ja gerade dann, wenn die primär für das Kindeswohl verantwortlichen Erziehungsberechtigten in ihrer Schutzfunktion ausfallen.
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