Schuldfähigkeit und richterliche Verantwortung: Der Beschluss des 5. Strafsenats des Bundesgerichtshofs vom 26. Februar 2025 (Az. 5 StR 733/24) führt erneut mit scharfer Klarheit vor Augen, dass die richterliche Bewertung der Schuldfähigkeit eines Angeklagten eine originäre Aufgabe des Gerichts bleibt – auch wenn medizinische Sachverständige ihre Expertise einbringen. Die Entscheidung revidiert ein Urteil des Landgerichts Itzehoe, das den Angeklagten wegen Vergewaltigung in Tateinheit mit Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten verurteilt hatte. Während die Feststellungen zum äußeren Tatgeschehen unangetastet bleiben, beanstandet der Senat die Feststellungen zur Schuldfähigkeit und hebt das Urteil im Übrigen auf.
Der Fall zeigt exemplarisch, wie anspruchsvoll die rechtsdogmatische Auseinandersetzung mit seelischen Störungen im Lichte der §§ 20, 21 StGB ist – und dass sich die Strafjustiz ihrer Verantwortung nicht entziehen darf, die medizinisch begründeten Einschätzungen selbstständig rechtlich zu prüfen.
Der Sachverhalt: Gewalt gegen eine hochbetagte Geschädigte
Der Angeklagte hatte sich unter einem Vorwand Zugang zur Wohnung einer 84-jährigen Frau verschafft. Nach einem anzüglichen Gespräch wurde er zunächst gebeten zu gehen, entwendete aber heimlich den Wohnungsschlüssel. Später kehrte er zurück und verging sich mit erheblicher Gewalt gegen die Geschädigte, was das Landgericht zutreffend als Vergewaltigung und Körperverletzung bewertete. Die Tat war in ihrer äußeren Gestalt klar und nachvollziehbar festgestellt, sodass insoweit kein Anlass zur Beanstandung bestand.
Streitpunkt blieb jedoch die innere Tatseite: War der Angeklagte im Sinne der §§ 20, 21 StGB schuldfähig – oder zumindest erheblich in seiner Steuerungsfähigkeit eingeschränkt?
Die Bedeutung psychiatrischer Gutachten und die richterliche Subsumtionsverantwortung
Das Landgericht hatte sich im Wesentlichen den Ausführungen einer Sachverständigen angeschlossen. Diese diagnostizierte beim Angeklagten eine Kombination aus hirnorganischem Abbau, Persönlichkeitsakzentuierungen und situativer Alkoholisierung. Trotz dieser Mehrfachbelastung hielt sie die Steuerungsfähigkeit des Angeklagten nur für „allenfalls vermindert, aber nicht erheblich eingeschränkt“. Begründet wurde dies mit dem planerischen Vorgehen des Täters, das mit einer impulsiven Tatgestaltung unvereinbar sei.
Der Bundesgerichtshof hält dem entgegen, dass sich das Landgericht in unzulässiger Weise auf die Beurteilung der Sachverständigen verlassen habe, ohne eigene rechtliche Wertung vorzunehmen. Die Frage, ob eine seelische Störung eine erhebliche Einschränkung im Sinne des § 21 StGB begründet, ist eine Rechtsfrage. Zwar mag medizinische Expertise bei der Feststellung der Störung unverzichtbar sein, doch deren rechtliche Einordnung obliegt allein dem Gericht.
Diese Unterscheidung ist zentral für ein rechtstaatliches Strafverfahren: Es genügt nicht, pathologische Symptome aufzuzählen und darauf eine Gutachtermeinung zu stützen. Das Gericht muss selbst prüfen, ob die festgestellten Auffälligkeiten tatsächlich das Gewicht einer schweren anderen seelischen Störung erreichen – und ob sie geeignet sind, die Fähigkeit des Angeklagten zur Steuerung seines Verhaltens in einer rechtlich relevanten Weise zu beeinträchtigen.
Die kritische Betrachtung des „planerischen Vorgehens“
Ein bemerkenswerter Aspekt der Entscheidung liegt in der Auseinandersetzung mit der häufig bemühten These, ein geplantes Verhalten spreche gegen eine erhebliche Einschränkung der Steuerungsfähigkeit. Der BGH betont, dass auch ein geordnetes Vorgehen – wie etwa das Entwenden eines Schlüssels – nicht zwangsläufig die Fähigkeit zur Impulskontrolle oder zur ethischen Abwägung intakt lässt. Gerade bei komplexen Persönlichkeitsstörungen oder chronischer Alkoholabhängigkeit mit hirnorganischer Beteiligung kann ein Täter durchaus handlungsfähig sein und dennoch in seiner inneren Steuerungsfähigkeit massiv eingeschränkt sein.
Das Gericht weist ferner darauf hin, dass die Sachverständige selbst keine eindeutige Diagnose gestellt hatte, sondern sich nur auf eine „Persönlichkeitsakzentuierung“ stützte, die mit weiteren Belastungsfaktoren interagierte. Eine derart diffuse Gemengelage bedarf jedoch einer präzisen rechtlichen Einordnung. Auch insoweit zeigt sich, wie wichtig eine differenzierte Auseinandersetzung mit dem Störungsbild, seiner Gewichtung und seiner normativen Relevanz ist.
Die Rechtsfolgen: Neue Hauptverhandlung, neue Bewertung
Da das Landgericht keine eigene rechtliche Subsumtion unter die Voraussetzungen des § 21 StGB vorgenommen hatte, sah sich der Bundesgerichtshof gezwungen, das Urteil – mit Ausnahme der Feststellungen zum äußeren Geschehen – aufzuheben. Die Strafkammer habe die rechtlichen Maßstäbe nicht beachtet und sich der richterlichen Verantwortung für die Bewertung der Schuldfähigkeit entzogen.
Das neue Tatgericht wird nun in eigener Verantwortung festzustellen haben, ob eine schwere seelische Störung vorlag, wie diese einzuordnen ist und ob sie die Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit zur Tatzeit erheblich beeinflusste. Dabei sind die normativen Anforderungen an jedermann zu berücksichtigen – und nicht nur das subjektive Leistungsvermögen des Täters.
Fazit
In der Kernaussage stellt der Beschluss des Bundesgerichtshofs klar, dass psychiatrische Gutachten unverzichtbare Instrumente der Strafrechtspflege sind – dass sie aber die rechtliche Verantwortung des Gerichts nicht ersetzen. Die Subsumtion unter die Voraussetzungen der §§ 20, 21 StGB ist kein medizinischer, sondern ein juristischer Akt, bei dem normative Maßstäbe und die Systematik des Strafrechts maßgeblich sind. Die Entscheidung erinnert daran, dass richterliche Verantwortung im Strafprozess nicht delegierbar ist – schon gar nicht, wenn es um die Frage geht, ob ein Täter für sein Verhalten schuldfähig ist oder nicht. Wer urteilt, muss prüfen – und wer prüft, darf sich nicht auf die Expertise anderer verlassen, ohne selbst die dogmatische Tragweite zu erfassen.
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