Beurteilung der Verhandlungsfähigkeit eines Angeklagten

Der Beschluss des Oberlandesgerichts Hamm (3 Ws 165/24) betrifft die Frage der Vergütung eines Sachverständigen, der zur Beurteilung der Verhandlungsfähigkeit eines Angeklagten im Rahmen eines Strafverfahrens herangezogen wurde. Die Verhandlungsfähigkeit spielt eine zentrale Rolle, wenn es darum geht, festzustellen, ob ein Angeklagter in der Lage ist, seine Verteidigung während eines Prozesses ordnungsgemäß wahrzunehmen.

Sachverständiger und Verhandlungsunfähigkeit

Im vorliegenden Fall war der Sachverständige beauftragt worden, ein Gutachten zu erstellen, das die Verhandlungsfähigkeit des Angeklagten zum Zeitpunkt der Zustellung eines Strafbefehls im Jahr 2020 beurteilen sollte. Die Verhandlungsfähigkeit im strafrechtlichen Sinne bezieht sich darauf, ob der Angeklagte aufgrund seines körperlichen oder geistigen Zustandes in der Lage ist, seine Interessen während eines Prozesses wahrzunehmen und seine Verteidigung zu führen.

Kernfragen und Probleme:

  1. Vergütung des Sachverständigen:
    • Der Sachverständige stufte seine Tätigkeit in die Honorargruppe M3 des Justizvergütungs- und -entschädigungsgesetzes (JVEG) ein, was eine höhere Vergütung vorsieht. Die Bezirksrevisorin hingegen argumentierte, dass das Gutachten zur Verhandlungsfähigkeit der niedrigeren Honorargruppe M2 zuzuordnen sei, was eine geringere Vergütung bedeutet.
    • Das Landgericht Arnsberg entschied zugunsten des Sachverständigen und setzte die Vergütung gemäß Honorargruppe M3 fest. Die Bezirksrevisorin legte daraufhin Beschwerde ein.
  2. Verhandlungsfähigkeit vs. Prozessfähigkeit:
    • Ein zentrales Thema in der Entscheidung war die Unterscheidung zwischen Verhandlungsfähigkeit im Strafrecht und Prozessfähigkeit im Zivilrecht. Die Verhandlungsfähigkeit bezieht sich auf die Fähigkeit eines Angeklagten, an einem Strafverfahren teilzunehmen, während die Prozessfähigkeit im Zivilrecht die Fähigkeit beschreibt, rechtswirksame Handlungen vorzunehmen und Prozesse zu führen.
    • Das Gericht stellte fest, dass die Beurteilung der Verhandlungsfähigkeit komplexer sein kann als die der Prozessfähigkeit, insbesondere wenn es um psychiatrische Erkrankungen geht, die die Verhandlungsfähigkeit zum Zeitpunkt eines in der Vergangenheit liegenden Ereignisses betreffen.

Entscheidung des Gerichts

Das OLG Hamm bestätigte die Entscheidung des Landgerichts Arnsberg und wies die Beschwerde der Landeskasse zurück. Es entschied, dass die Einordnung des Gutachtens in die Honorargruppe M3 gerechtfertigt war, da das Gutachten aufgrund der besonderen Schwierigkeiten, insbesondere der psychiatrischen Diagnosen und der rückwirkenden Beurteilung, ein höheres Maß an Fachkenntnis und Aufwand erforderte:

§ 9 Abs. 1 JVEG sieht in Satz 1 vor, dass sich das Honorar des Sachverständigen nach der Anlage 1 bemisst, wobei sich die Zuordnung der Leistung zu einem Sachgebiet gemäß § 9 Abs. 1 Satz 2 JVEG nach der Entscheidung über die Heranziehung des Sachverständigen bestimmt. Bei der Frage welches Sachgebiet vorliegt, ist daher stets auf die Entscheidung über die Heranziehung abzustellen (Abs. 1 S. 2), so dass es regelmäßig auf den Beweisbeschluss ankommt. Unerheblich sind daher sowohl ein eigenmächtiges Abweichen des Sachverständigen vom Beweisbeschluss sowie die Tatsache, dass der Sachverständige darüber hinaus auch auf anderen Sachgebieten beruflich tätig ist. Auch die durch den Sachverständigen selbständig vorgenommene Zuordnung zu einem Sachgebiet und deren Mitteilung (z.B. in der Auftragsbestätigung des Sachverständigen) und das bloße Schweigen der heranziehenden Stelle darauf begründen keinen Vertrauensschutz und auch keinen von den Vorgaben des JVEG abweichenden Honoraranspruch (…)

Bei der Zuordnung der Leistung gemäß der Anlage 1 zu § 9 Abs. 1 Satz 1 JVEG ist zunächst zu beachten, dass Rechtsprechung und Kommentierungen zur Einordnung der Leistung eines Sachverständigen unter Sachgebietsbezeichnungen bereits dem Gesetzeswortlaut nach nur Teil 1 der Anlage 1 zu § 9 Abs. 1 Satz 1 JVEG betreffen können. Denn nur Teil 1 enthält als Überschrift den Begriff „Sachgebietsbezeichnung“.

Demgegenüber unterscheidet der für die hier zur Beurteilung relevante Teil 2 der Anlage 1 zu § 9 Abs. 1 Satz 1 JVEG unter der Gesamtüberschrift „Gegenstand medizinischer oder psychologischer Gutachten“ zwischen drei „Gutachtenarten“, nämlich:

  1. „Einfache gutachterliche Beurteilungen ohne Kausalitätsfeststellungen, insbesondere (…)“ (M 1),
  2. „Beschreibende (Ist-Zustands-)Begutachtung nach standardisiertem Schema ohne Erörterung spezieller Kausalzusammenhänge mit einfacher medizinischer Verlaufsprognose und mit durchschnittlichem Schwierigkeitsgrad, insbesondere Gutachten (…)“ (M 2) und
  3. „Gutachten mit hohem Schwierigkeitsgrad (Begutachtungen spezieller Kausalzusammenhänge und/oder differentialdiagnostischer Probleme und/oder Beurteilung der Prognose und/oder Beurteilung strittiger Kausalitätsfragen), insbesondere Gutachten (…)“ (M 3).


Bei den unter diesen genannten Stufen jeweils aufgeführten Beispielen handelt es sich nach dem Willen des Gesetzgebers demgegenüber (nur) um Regelbeispiele (vgl. BT-Drs. 19/23484, Seite 73). (…) Jedoch hat der Gesetzgeber zu Teil 2 der Anlage 1 ausgeführt, dass Gutachten im Einzelfall schwieriger oder weniger schwierig sein können als der entsprechende Regelfall und damit in eine höhere, aber auch eine niedrigere Honorargruppe fallen. Es bedürfe daher stets einer einzelfallbezogenen Beurteilung, in welche Honorargruppe die erbrachte Leistung einzuordnen ist (vgl. BT-Drs. 19/23484, Seite 73, 74).

Zur Verhandlungsunfähigkeit führte es aus:

Die Verhandlungsfähigkeit des Strafrechts ist nicht gleichzusetzen mit der bürgerlich-verfahrensrechtlichen Prozessfähigkeit nach § 52 ZPO oder der materiell-zivilrechtlichen Geschäftsfähigkeit des § 104 BGB (Regelbeispiel Nr. 17 zur Honorargruppe M 3). Denn das Strafprozessrecht geht davon aus, dass in der Regel schon ein Vierzehnjähriger strafmündig und zugleich auch strafprozessfähig ist (vgl. BayObLG, Beschluss vom 23. August 1988 – RReg. 3 St 110/88 –, NStZ 1989, 131; MüKoStPO/Wenske, 2. Aufl. 2024, § 205, Rdnr. 18). Verhandlungsfähigkeit im strafprozessualen Sinn setzt grundsätzlich keine Geschäfts- oder Schuldfähigkeit voraus, sondern nur einen genügenden Reifegrad sowie bei hinreichender Freiheit der Willensentschließung und Willensbetätigung die Bedeutung von Prozesserklärungen zu erkennen. Je nach den Anforderungen für die anstehenden Prozesshandlungen kann eine unterschiedliche Beurteilung erforderlich sein. Selbst bei Angeklagten, deren geistige, psychische oder körperliche Fähigkeit zur Wahrnehmung der Verteidigungsrechte eingeschränkt ist, liegt Verhandlungsunfähigkeit nicht vor, wenn die Auswirkungen solcher Einschränkungen auf die tatsächliche Wahrnehmung der Verfahrensrechte durch Hilfen für den Betroffenen ausgeglichen werden können (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, , 67. Auflage, Einleitung, Rdnr. 97 m.w.N.).

Für die Verhandlungsfähigkeit im strafprozessualen Sinne genügt es grundsätzlich, dass der Angeklagte die Fähigkeit hat, in und außerhalb der Verhandlung seine Interessen vernünftig wahrzunehmen, die Verteidigung in verständiger und verständlicher Weise zu führen sowie Prozesserklärungen abzugeben oder entgegenzunehmen (vgl. BGH, Beschluss vom 4. Dezember 2012 – 4 StR 405/12 –, NStZ-RR 2013, 154 m.w.N.). Darauf hatte die Kammer den Sachverständigen im Beweisbeschluss vom 13. November 2012 auch hingewiesen, indem sie u.a. ausdrücklich auf die Verfügung des Vorsitzenden Bl. 208 d.A. Bezug genommen hat.

Demgegenüber ist eine Person gemäß § 52 ZPO insoweit prozessfähig, als sie sich durch Verträge verpflichten kann. Prozessfähig ist demnach, wer sich (selbständig) durch Verträge verpflichten kann (vgl. MüKoZPO/Lindacher/Hau, 6. Aufl. 2020, §§ 51, 52, Rdnr. 3). Die Geschäfts- und Prozessunfähigkeit kann sich nach § 104 Nr. 2 BGB auch auf einen bestimmten Kreis von Angelegenheiten beschränken, so bei Querulanten für die Prozessführung (vgl. BeckOK ZPO/Hübsch/Kersting, 52. Ed. 1.3.2024, ZPO § 52 Rdnr. 4).

Dies bedeutet, dass ein „Querulant“ unter Umständen zivilprozessual prozessunfähig ist, während die strafprozessuale Verhandlungsfähigkeit – ggf. mit Hilfestellung im o.g. Sinne – gegeben ist.

Fazit

Die Entscheidung des OLG Hamm betont die Bedeutung einer sorgfältigen und differenzierten Einordnung von Gutachten im Kontext der Verhandlungsfähigkeit in Strafprozessen. Die Komplexität und die speziellen Anforderungen an den Sachverständigen rechtfertigten in diesem Fall eine höhere Vergütung. Die Unterscheidung zwischen Verhandlungs- und Prozessfähigkeit zeigt die unterschiedlichen Anforderungen, die in strafrechtlichen und zivilrechtlichen Verfahren an die Beteiligten gestellt werden.

Rechtsanwalt Jens Ferner (Fachanwalt für IT- & Strafrecht)
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Von Rechtsanwalt Jens Ferner (Fachanwalt für IT- & Strafrecht)

Ich bin Fachanwalt für Strafrecht + Fachanwalt für IT-Recht und widme mich beruflich ganz der Tätigkeit als Strafverteidiger und dem IT-Recht. Vor meinem Leben als Anwalt war ich Softwareentwickler. Ich bin Autor sowohl in einem renommierten StPO-Kommentar als auch in Fachzeitschriften. Dabei bin ich fortgebildet in Krisenkommunikation und Compliance.

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