BGH zur zeitlichen Anwendbarkeit der erleichterten elektronischen Strafantragstellung: Mit Beschluss vom 21. August 2024 (Az. 3 StR 97/24) hat der Bundesgerichtshof klargestellt, dass neue Regelungen zum Strafantrag nach § 158 Abs. 2 StPO in der Fassung des Gesetzes zur weiteren Digitalisierung der Justiz vom 12. Juli 2024 keine Rückwirkung entfalten. Die Entscheidung berührt grundlegende Fragen des intertemporalen Prozessrechts und konkretisiert, wann ein prozessuales Geschehen als „abgeschlossen“ zu gelten hat – mit weitreichenden Folgen für die Verfolgbarkeit antragsabhängiger Delikte.
Hintergrund der Entscheidung
Dem Verfahren lag unter anderem eine Verurteilung wegen Beleidigung zugrunde, zu der das Landgericht Siegen ein E-Mail-Schreiben des Geschädigten als Strafantrag gewertet hatte. Dieses war als einfache Textdatei ohne qualifizierte Signatur an die Polizei gesendet worden. Der Antragsteller hatte auf eine polizeiliche Aufforderung reagiert, seine Identität war den Behörden bekannt. Gleichwohl entsprach die Übermittlung nach der damals geltenden Rechtslage nicht den Anforderungen des § 158 Abs. 2 StPO a.F., wonach ein Strafantrag „schriftlich“ oder zu Protokoll eines Gerichts oder der Staatsanwaltschaft zu stellen war. Eine einfache E-Mail genügte dem nicht.
Am 17. Juli 2024 trat eine Neufassung der Vorschrift in Kraft, nach der künftig eine Strafantragstellung auch per einfacher E-Mail zulässig ist, sofern aus Inhalt und Umständen Identität und Verfolgungswille eindeutig hervorgehen. Diese Voraussetzung war im vorliegenden Fall erfüllt. Dennoch hat der BGH die Verurteilung aufgehoben und das Verfahren insoweit gemäß § 206a StPO eingestellt.
Dogmatische Ausgangspunkte
Der Senat setzt sich eingehend mit dem intertemporalen Anwendungsbereich prozessualer Normen auseinander. Zwar gilt der Grundsatz, dass formelles Recht mit Inkrafttreten auf alle laufenden Verfahren Anwendung findet. Dies betrifft Verfahrensvorschriften in ihrer Funktion als „formelles Recht“ im engeren Sinn, etwa zur Ausgestaltung des Strafprozesses oder zur Stellung von Verfahrensbeteiligten.
Dieser Grundsatz stößt jedoch dort an seine Grenzen, wo ein verfahrensrechtlicher Vorgang zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des neuen Rechts bereits abgeschlossen war. Im vorliegenden Fall war die Antragsfrist gemäß § 77b Abs. 1 StGB bei Inkrafttreten der Neuregelung abgelaufen, ohne dass ein formwirksamer Antrag nach alter Rechtslage vorlag. Das Gesetz zur Digitalisierung der Justiz enthält keine Übergangsregelung, die eine rückwirkende Heilung formunwirksamer Anträge vorsieht. Das neue Recht findet daher keine Anwendung auf bereits abgeschlossene prozessuale Vorgänge.
Systematische Abgrenzung
Der Senat grenzt seine Entscheidung ausdrücklich von Fällen ab, in denen nach Ablauf der Antragsfrist ein besonderes öffentliches Interesse bejaht wird (vgl. § 194 Abs. 1 Satz 1 StGB). In diesen Konstellationen kommt eine Strafverfolgung auch ohne formellen Antrag in Betracht, sofern das Gesetz dies ausdrücklich vorsieht. Anders ist es bei einer Rechtsänderung, die die Antragsvoraussetzungen erleichtert – hier bleibt es beim Grundsatz der Nicht-Rückwirkung, sofern der Gesetzgeber keine ausdrückliche anderweitige Regelung getroffen hat.
Dies gilt insbesondere für die Differenzierung zwischen materiell-rechtlicher Strafverfolgbarkeit und prozessualer Verfolgungsmöglichkeit: Das Gesetz regelt zwar nunmehr die Anforderungen an die Form des Strafantrags milder, ändert aber nicht rückwirkend die Verfolgbarkeit bereits verfristeter Delikte.
Auswirkungen auf das Verfahren
Im vorliegenden Fall stellte der BGH das Verfahren wegen Beleidigung gemäß § 206a Abs. 1 StPO ein, da der Strafantrag unwirksam war. Die Folge war die Anpassung des Schuldspruchs und der Wegfall einzelner Freiheitsstrafen. Die Gesamtstrafe blieb indes bestehen, da sie sich maßgeblich auf andere, nicht betroffene Einzelstrafen stützte. Die rechtliche Beurteilung hatte daher keine Auswirkungen auf die Strafzumessung im Übrigen.
Die Kernaussage: Auch prozessuale Liberalität bedarf rechtsstaatlicher Strenge. Der Wille zur Verfolgung ist nicht alles – die Form bleibt entscheidend, solange der Gesetzgeber keinen anderen Maßstab normiert.
Fazit
Die Entscheidung des BGH bekräftigt die rechtstaatlich gebotene Begrenzung rückwirkender Gesetzesanwendung auch im Bereich des Verfahrensrechts. Selbst wenn neue gesetzliche Regelungen eine erhebliche Erleichterung für Bürgerinnen und Bürger schaffen – wie hier bei der Antragstellung per E-Mail –, so ist dies nicht gleichbedeutend mit einer rückwirkenden Gültigkeit früher formunwirksamer Handlungen.
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