Hanseatisches OLG Hamburg zum Verhältnis von Fiktion, Realität und rechtlicher Grenze im Roman: Mit Beschluss vom 18. März 2025 (Az. 7 W 23/25) hat das Hanseatische Oberlandesgericht Hamburg einen medienrechtlich wie grundrechtlich bedeutsamen Maßstab zur Frage entwickelt, wann ein Roman, dessen Figuren erkennbare reale Vorbilder haben, das allgemeine Persönlichkeitsrecht verletzt.
Im Mittelpunkt der Auseinandersetzung stand das Spannungsverhältnis zwischen der verfassungsrechtlich garantierten Kunstfreiheit und dem Schutz der Privatsphäre real existierender Personen. Die Entscheidung präzisiert die Anforderungen an eine rechtlich relevante Identifizierbarkeit, die Bedeutung der Fiktionalisierung und die Rolle der Gesamtanmutung eines literarischen Werks.
Hintergrund des Verfahrens
Anlass des Verfahrens war die Veröffentlichung eines Romans mit dem Titel „Innerstädtischer Tod“, in dem zwei Figuren – ein prominentes Berliner Galeristenpaar – aus Sicht der Antragsteller erkennbar an sie angelehnt waren. Tatsächlich ließen sich anhand zahlreicher Parallelen zwischen dem fiktionalen Ehepaar „Konrad Raspe“ und „Eva-Kristin Raspe“ und den Antragstellern Rückschlüsse auf deren reale Identität ziehen. Dies betraf nicht nur biografische Daten und berufliche Kontexte, sondern auch medienbekannte Vorwürfe gegen den männlichen Antragsteller. Die Antragsteller sahen sich in ihrem Persönlichkeitsrecht verletzt und begehrten die Unterlassung der Verbreitung des Buches.
Die rechtliche Bewertung
Das Hanseatische Oberlandesgericht bejahte zwar die Erkennbarkeit der Antragsteller, wies die Beschwerde aber zurück. Es stellte klar, dass allein die Wiedererkennbarkeit realer Personen in einem fiktionalen Werk keine Verletzung des Persönlichkeitsrechts begründet. Entscheidend sei vielmehr, ob das Kunstwerk – trotz erkennbarer Anknüpfung an reale Personen – eine eigenständige fiktionale Realität erschafft, die im Lichte der Kunstfreiheit Bestand hat. Diese Prüfung sei nicht schematisch, sondern anhand einer kunstspezifischen Abwägung vorzunehmen, die sich an der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts im Fall „Esra“ orientiert.
Dabei betonte das Gericht zunächst die Bedeutung der Kunstfreiheit aus Art. 5 Abs. 3 GG, die – anders als die Meinungsfreiheit – nur verfassungsimmanenten Schranken unterliegt. Dem gegenüber steht das allgemeine Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG, das insbesondere im Kernbereich privater Lebensführung besonders geschützt ist. Der Konflikt dieser Rechte ist durch eine einzelfallbezogene Abwägung zu lösen.
Das OLG stellte fest, dass der streitgegenständliche Roman erkennbar als Fiktion intendiert war. Die Bezeichnung als „Roman“, der deutlich formulierte Disclaimer im Vorwort sowie die komplexe Erzählstruktur mit multiplen Perspektivwechseln und fiktiven Figuren deuteten auf eine bewusste literarische Gestaltung hin. Die Tatsache, dass tatsächliche Ereignisse – etwa der Ukrainekrieg – als Hintergrund dienten, stehe dieser Bewertung nicht entgegen. Vielmehr sei es Teil literarischer Praxis, Fiktion mit Realität zu verweben, ohne daraus einen Faktizitätsanspruch abzuleiten.
In Bezug auf die Antragsteller sei die Darstellung zudem in entscheidenden Punkten verfremdet worden. Alter, Familienstand, architektonische Details der Galerie und andere narrative Elemente wichen teils deutlich von der Realität ab. Auch intime Passagen – insbesondere eine fiktive Affäre – seien im Kontext der Erzählung als künstlerisches Stilmittel erkennbar gewesen und nicht geeignet, beim Leser den Eindruck realer Begebenheiten hervorzurufen. Die Darstellung sei literarisch motiviert, dramaturgisch eingebettet und nicht als Tatsachenbehauptung über reale Personen zu verstehen.
Zwar seien auch Eingriffe in den sozialkommunikativen Bereich – etwa durch die Schilderung von Missbrauchsvorwürfen – grundsätzlich geeignet, das Persönlichkeitsrecht zu berühren. Doch das Gericht stellte klar, dass sich die Darstellung auf eine ambivalente Reflexion des gesellschaftlichen Umgangs mit solchen Vorwürfen beschränke, ohne abschließend Position zu beziehen. Der Roman lasse offen, ob die Vorwürfe zutreffen, und beleuchte vielmehr die Reaktionen der Öffentlichkeit, was als legitimes Thema literarischer Auseinandersetzung gelten könne.
Entscheidend ist nicht, ob ein Leser Parallelen erkennt, sondern ob er das Werk als fiktionale Reflexion versteht – und ob die Darstellung geeignet ist, das Ansehen oder die Intimsphäre des Betroffenen schwerwiegend zu beeinträchtigen. Die Kernaussage lautet: Die Kunstfreiheit schützt auch dann, wenn die Fiktion einen realen Kern hat – solange sie nicht zur verkappten Tatsachenbehauptung gerät.
Fazit
Die Entscheidung des OLG Hamburg setzt einen differenzierten Maßstab für die Beurteilung von Persönlichkeitsrechtsverletzungen durch fiktionale Werke. Sie erkennt den Schutz realer Personen vor Entstellung, Bloßstellung und Stigmatisierung an – bewahrt aber zugleich den Spielraum der Kunst, mit realen Bezügen zu arbeiten.
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