Zum Mordmerkmal „mit gemeingefährlichen Mitteln“ beim Einsatz eines
Kraftfahrzeugs als Tatwerkzeug.
BGH Urteil vom 16.8.2005, Az: 4 StR 168/05
Das Mordmerkmal der Tötung mit gemeingefährlichen Mitteln ist erfüllt, wenn der Täter ein Mittel zur Tötung einsetzt, das in der konkreten Tatsituation eine Mehrzahl von Menschen an Leib und Leben gefährden kann, weil er die Ausdehnung der Gefahr nicht in seiner Gewalt hat (BGHSt 38, 353, 354 m.w.N.). Die Qualifikation hat ihren Grund in der besonderen Rücksichtslosigkeit des Täters, der sein Ziel durch die Schaffung unberechenbarer Gefahren für andere durchzusetzen sucht (BGHSt 34, 13, 14). Dabei ist nicht allein auf die abstrakte Gefährlichkeit eines Mittels abzustellen, sondern auf seine Eignung und Wirkung in der konkreten Situation unter Berücksichtigung der persönlichen Fähigkeiten und Absichten des Täters (vgl. BGHSt 38, 353, 354; Jähnke in LK 11. Aufl. § 211 Rdn. 57). Die Mordqualifikation kann deshalb auch dann erfüllt sein, wenn ein Tötungsmittel eingesetzt wird, das seiner Natur nach, wie hier, nicht gemeingefährlich ist. Maßgeblich ist dann jedoch die Eignung des Mittels zur Gefährdung Dritter in der konkreten Situation (vgl. zum Steinwurf in dichtem Verkehr BGH VRS 63, 119; Jähnke aaO; Schneider in MünchKomm StGB § 211 Rdn. 104; a.A. Horn in SK StGB § 211 Rdn. 50).
Diese an das Mordmerkmal „mit gemeingefährlichen Mitteln“ zu stellenden Anforderungen sind nach den getroffenen Feststellungen hier erfüllt. Welche und wie viele Personen durch das mit zügigem Tempo durch die Caféterrassen und über Gehwege gelenkte Fahrzeug gefährdet, verletzt und getötet werden konnten, war für den Angeklagten nicht berechenbar. Er beherrschte den Umfang der Gefährdung nicht. Vielmehr hatte er durch seine unkontrollierte und deshalb für Dritte unberechenbare Fahrt durch Menschenansammlungen hindurch „in besonderer Rücksichtslosigkeit“ (BGHSt 38, 353, 354; BGH NJW 1985, 1477, 1478) eine Gefahr für eine unbestimmte Vielzahl von Personen geschaffen. Er hatte es nicht in der Hand, wie viele Menschen als Repräsentanten der Allgemeinheit (Rengier StV 1986, 405, 407) in den von ihm geschaffenen Gefahrenbereich geraten und durch sein Verhalten gefährdet werden konnten.
Der Fall einer von dem Mordmerkmal tatbestandlich nicht erfassten versuchten „schlichten“ Mehrfachtötung liegt hier nicht vor, weil sich die Tat des Angeklagten nicht gegen eine Mehrzahl von ihm individualisierter Opfer richtete (vgl. Schneider in MünchKomm aaO Rdn. 103; Rengier aaO S. 406).
b) Auch im übrigen weist die Revision aus den zutreffenden Gründen der Antragsschrift des Generalbundesanwalts keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten auf.
2. Revision der Staatsanwaltschaft
Das Urteil weist auch keinen Rechtsfehler zum Vorteil des Angeklagten auf.
a) Die Verneinung des Mordmerkmals der Heimtücke begegnet jedenfalls im Ergebnis keinen durchgreifenden rechtlichen Bedenken.
aa) Allerdings ist die rechtliche Bewertung des Landgerichts zur objektiven Seite des Mordmerkmals rechtsfehlerhaft. Die Begründung, die Tatopfer seien nicht arglos gewesen, da sie sich der Gefahrensituation bewusst gewesen seien und versucht hätten, ihr zu entkommen, zeigt, dass das Landgericht einen zu engen Maßstab an die objektiven Voraussetzungen der Heimtücke angelegt hat. Diese können nämlich selbst dann erfüllt sein, wenn die Opfer den Angeklagten jeweils kurz vor der Kollision bemerkt und mit einer Fahrzeugattacke gerechnet haben sollten. Dies schließt die Arglosigkeit eines Opfers nicht von vornherein aus.
Heimtückisch handelt, wer in feindlicher Willensrichtung die Arg- und Wehrlosigkeit des Opfers bewusst zur Tötung ausnutzt. Wesentlich ist, dass der Täter sein Opfer, das keinen Angriff erwartet, also arglos ist, in einer hilflosen Lage überrascht und dadurch daran hindert, dem Anschlag auf sein Leben zu begegnen oder ihn wenigstens zu erschweren (vgl. BGHSt 39, 353, 368; BGHR StGB § 211 Abs. 2 Heimtücke 2 m.w.N.). Das Opfer muss gerade aufgrund seiner Arglosigkeit wehrlos sein (BGHSt 32, 382, 384). Allerdings kann das Opfer auch dann arglos sein, wenn der Täter ihm offen feindselig entgegentritt, die Zeitspanne zwischen dem Erkennen der Gefahr und dem unmittelbaren Angriff aber so kurz ist, dass keine Möglichkeit bleibt, dem Angriff irgendwie zu begegnen (BGHR StGB § 211 Abs. 2 Heimtücke 3 und 15).
So liegt der Fall hier. Das Landgericht hat festgestellt, dass den Tatopfern trotz des Erkennens der Gefahr wegen der Unberechenbarkeit der Fahrweise des Angeklagten gerade keine Möglichkeit mehr blieb, der Fahrzeugattacke auszuweichen.
bb) Hingegen hält die Verneinung der subjektiven Seite des Mordmerkmals der rechtlichen Überprüfung stand.
Die sehr knapp gehaltene Begründung des Landgerichts lässt unter Heranziehung des Gesamtzusammenhangs der Urteilsgründe nicht besorgen, dass hinsichtlich der subjektiven Erfordernisse heimtückischer Begehungsweise wesentliche Umstände nicht berücksichtigt worden sind.
Das Ausnutzungsbewusstsein setzt voraus, dass der Täter die äußeren Umstände der Arg- und Wehrlosigkeit des Opfers wahrgenommen und sie bewusst zur Tatbegehung instrumentalisiert hat (st. Rspr., vgl. die Zusammenfassung bei Schneider in MünchKomm StGB § 211 Rdn. 140 m.N.). Dabei kann Spontanität des Tatentschlusses im Zusammenhang mit der Vorgeschichte und dem psychischen Zustand des Täters ein Beweisanzeichen dafür sein, dass ihm das Ausnutzungsbewusstsein fehlte (vgl. BGH NJW 1983, 2456; BGHR StGB § 211 Abs. 2 Heimtücke 26). Andererseits hindert nicht jede affektive Erregung oder heftige Gemütsbewegung einen Täter daran, die Bedeutung der Arg- und Wehrlosigkeit des Opfers für die Tat zu erkennen (vgl. BGH StV 1981, 523, 524; BGH NStZ-RR 2000, 166, 167; BGH, Urteil vom 25. November 2004 – 5 StR 401/04).
Diesen Grundsätzen werden die Urteilsgründe noch gerecht. Das Landgericht hat nicht festzustellen vermocht, dass sich der Angeklagte bereits vor oder bei Verlassen des Lokals mit dem Gedanken zur Tatbegehung trug, sondern es geht rechtsfehlerfrei davon aus, dass er diesen Entschluss spontan erst bei Fahrtantritt fasste. Ein Motiv für die Tat ist nicht erkennbar geworden. Das sachverständig beratene Schwurgericht ist vor diesem Hintergrund unter Berücksichtigung der festgestellten „Lebenskrise“ des Angeklagten infolge seines beruflichen Misserfolgs, seiner Alkoholerkrankung und seines Konflikts mit seiner Lebens- und Geschäftspartnerin, sowie seiner die Steuerungsfähigkeit erheblich einschränkenden Alkoholisierung zur Tatzeit und seines Schlafdefizits rechtsfehlerfrei zu dem Ergebnis gelangt, der Angeklagte habe zur Entladung eines „spontanen Aggressionsstaus“ gehandelt. In Anbetracht dieser Umstände ist der Schluss, der Angeklagte habe sich infolge dieser heftigen Gefühlsaufwallung und seiner Enthemmung nicht ausschließbar keine weiteren Gedanken über die Vorstellung der Opfer gemacht, jedenfalls möglich und deshalb aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden.
b) Dass das Schwurgericht das Mordmerkmal der niedrigen Beweggründe unerörtert gelassen hat, unterliegt ebenfalls keinen durchgreifenden Bedenken.
Zwar kann ein Mord aus niedrigen Beweggründen vorliegen, wenn der Täter einen anderen Menschen zum Objekt seiner Wut und Gereiztheit macht, an deren Entstehung der andere nicht den geringsten Anteil hat (BGH NStZ 1981, 100, 101). Auch ist das Mordmerkmal regelmäßig dann erfüllt, wenn der Täter in dem Bewusstsein handelt, keinen Grund für eine Tötung zu haben oder zu brauchen, oder er bewusst seine frustrationsbedingten Aggressionen an einem unbeteiligten Opfer abreagiert (BGHSt 47, 128). In Anbetracht der dargelegten Feststellungen zur psychischen Verfassung des Angeklagten zur Tatzeit liegt auf der Hand, dass das Mordmerkmal der niedrigen Beweggründe jedenfalls aus subjektiven Gründen ebenfalls ausschied.
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