Mit Beschluss vom 25. Januar 2024 (Az. KVB 61/23) hat der Bundesgerichtshof (BGH) eine wettbewerbsrechtlich relevante Grundsatzfrage zur Anwendbarkeit von § 18 Abs. 3a GWB beantwortet: Wann liegt ein „mehrseitiger Markt“ im Sinne dieser Norm vor? Die Entscheidung beleuchtet nicht nur die ökonomischen Grundlagen dieser Marktstruktur, sondern auch deren Bedeutung für die marktbezogene Wettbewerbsanalyse – insbesondere im Kontext digitaler Plattformen.
Sachverhalt
Gegenstand des Verfahrens war die Frage, ob das Geschäftsmodell eines Unternehmens, das auf einer Plattform unterschiedliche Nutzergruppen bedient, als „mehrseitiger Markt“ im Sinne des § 18 Abs. 3a GWB zu qualifizieren ist. Das Unternehmen stand im Verdacht, seine marktübergreifende Stellung missbräuchlich auszunutzen. Die Bundesnetzagentur hatte sich zur Zuständigkeit berufen gefühlt, was die Beschwerdeführerin infrage stellte – unter anderem mit Verweis auf die Marktstruktur.
Rechtlicher Rahmen: § 18 Abs. 3a GWB
Die Norm wurde mit der 10. GWB-Novelle eingeführt, um insbesondere digitalen Plattformen und Netzwerken gerecht zu werden. § 18 Abs. 3a GWB definiert mehrseitige Märkte als solche, bei denen ein Unternehmen „Nutzergruppen gegenübertritt, zwischen denen ein direkter oder indirekter Zusammenhang besteht“.
Der Gesetzgeber wollte damit vor allem intermediäre Geschäftsmodelle erfassen – etwa Plattformen wie Amazon, eBay oder Uber, die auf der Vermittlung zwischen unterschiedlichen Nutzergruppen basieren und durch Netzwerkeffekte geprägt sind.
Entscheidung des BGH
Der BGH stellt klar, dass für die Annahme eines mehrseitigen Marktes zwei Kernelemente entscheidend sind:
- Existenz mehrerer Nutzergruppen, die jeweils eine Beziehung zur Plattform unterhalten, und
- Wechselseitige Interdependenz, also ein funktionaler Zusammenhang zwischen den Gruppen über die Plattform hinweg.
Im konkreten Fall prüfte der BGH, ob der Plattformbetreiber tatsächlich als Intermediär zwischen verschiedenen Gruppen agiert oder lediglich ein einseitiges Leistungsangebot unterbreitet. Entscheidend war, ob die Marktteilnahme der einen Seite Auswirkungen auf die andere Seite hat – etwa in Form von Netzwerkeffekten, cross-side externalities oder korrespondierender Zahlungsströme.
Der BGH betonte, dass eine bloße Mehrproduktstruktur noch keinen mehrseitigen Markt begründet. Nur wenn beide Seiten voneinander abhängen und systematisch miteinander verknüpft sind, liegt ein mehrseitiger Markt im Sinne des GWB vor.
Folgen für die kartellrechtliche Praxis
Die Entscheidung hat erhebliches Gewicht für die Anwendung des § 19a GWB, mit dem „Unternehmen mit überragender marktübergreifender Bedeutung“ unter eine besondere Missbrauchsaufsicht gestellt werden. Gerade bei Plattformunternehmen ist die zutreffende Marktdefinition – ob ein- oder mehrseitig – oft der Dreh- und Angelpunkt der Beurteilung.
Durch den restriktiveren Maßstab des BGH wird deutlich: Nicht jedes Unternehmen mit mehreren Kundengruppen fällt automatisch unter das Regime des mehrseitigen Markts. Die wirtschaftliche Verflechtung muss substantiell und strukturprägend sein.
Schlussfolgerung
Der BGH grenzt mehrseitige Märkte im Sinne von § 18 Abs. 3a GWB dogmatisch sauber ab. Das schützt vor einer inflationären Anwendung der Norm und bewahrt zugleich die Systematik des Kartellrechts in digitalen Kontexten. Plattformbetreiber und Aufsichtsbehörden müssen künftig noch genauer analysieren, ob eine echte Intermediation mit wechselseitiger Abhängigkeit vorliegt – oder lediglich parallele Leistungsbeziehungen bestehen. Die Entscheidung stärkt somit die ökonomische Fundierung der wettbewerbsrechtlichen Marktdefinition und wirkt über den Einzelfall hinaus normprägend.
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