Untersuchungshaft, Überhaft und das Beschleunigungsgebot

OLG Hamm zur Verhältnismäßigkeit von Freiheitsentzug: In seinem Beschluss vom 20. Februar 2025 (Az. 5 Ws 77/25) hebt das OLG Hamm einen Haftbefehl gegen einen wegen schwerer Straftaten Beschuldigten auf und ordnet dessen sofortige Entlassung aus der Untersuchungshaft an. Der Beschluss illustriert in bemerkenswerter Klarheit, unter welchen Voraussetzungen eine Fortdauer der Untersuchungshaft nicht mehr mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz vereinbar ist – selbst bei gravierenden Vorwürfen.

Kernaussagen des Gerichts

Das Gericht betont, dass nicht nur die Frage nach dem Vorliegen eines dringenden Tatverdachts und eines gesetzlichen Haftgrundes entscheidend ist, sondern dass auch die prozessuale Behandlung der Sache dem sogenannten Beschleunigungsgebot genügen muss. Dieses verlangt, dass Strafverfolgungsbehörden und Gerichte Verfahren, in denen sich der Beschuldigte in Haft befindet, mit besonderem Nachdruck und zügig betreiben.

Das OLG macht dabei deutlich: Auch wenn sich ein Beschuldigter bereits aus anderem Anlass in Strafhaft befindet – also nicht direkt im Vollzug des neu erlassenen Haftbefehls –, muss das Strafverfahren in der neuen Sache zügig betrieben werden. Dies betrifft den sogenannten Überhaftfall.

Was ist „Überhaft“?

Von Überhaft spricht man, wenn gegen eine Person, die sich bereits in Strafhaft befindet, ein weiterer Haftbefehl in einer anderen Sache erlassen wird, der jedoch (noch) nicht vollzogen wird, weil die Person ohnehin schon im Vollzug ist. Das bedeutet: Die Untersuchungshaft läuft „im Hintergrund“ mit, ohne praktisch vollstreckt zu werden.

Ein solcher Haftbefehl hat dennoch erhebliche rechtliche Wirkung – er sichert die spätere Inhaftierung nach Ablauf der Strafhaft oder ermöglicht eine gesonderte Untersuchungshaftfortdauer. Zugleich aber löst auch dieser sogenannte Überhaftbefehl das besondere Beschleunigungsgebot in Haftsachen aus, wenn auch in etwas abgeschwächter Form. Denn Freiheitsentzug – auch „nur vorgemerkt“ – bleibt ein gravierender Grundrechtseingriff.

Verfahrensmängel und Konsequenzen

Im konkreten Fall rügte das OLG mehrere Aspekte:

  • Die Ermittlungen seien extrem schleppend geführt worden, insbesondere sei die zentrale Zeugenvernehmung mit monatelanger Verzögerung erfolgt.
  • Wichtige Aufklärungsmaßnahmen wie eine umfassende Spurensicherung oder die Befragung von Justizvollzugsbediensteten seien vollständig unterblieben.
  • Die Staatsanwaltschaft habe trotz frühzeitigem Ermittlungsansatz erst ein Jahr nach der Tat Anklage erhoben.
  • Auch nach Anklageerhebung sei das Verfahren nicht beschleunigt geführt worden: Die Hauptverhandlung sei frühestens zehn Monate nach Tat bekannt gewordenem Sachverhalt angesetzt worden, obwohl eine Priorisierung notwendig gewesen wäre.

In der Gesamtschau kam das OLG zu dem Ergebnis, dass die Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft – selbst unter Berücksichtigung der Schwere der Tatvorwürfe – nicht mehr mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu vereinbaren war. Daher war der Haftbefehl aufzuheben und der Beschuldigte freizulassen.

Fazit

Der Beschluss des OLG Hamm zeigt eindrucksvoll, dass auch schwere Tatvorwürfe nicht grenzenlos zur Begründung von Untersuchungshaft herangezogen werden dürfen. Die strafprozessuale Pflicht zur zügigen Verfahrensführung gilt auch – und gerade – in Fällen der Überhaft. Andernfalls ist die Untersuchungshaft nicht mehr verhältnismäßig und muss beendet werden. Die Entscheidung ist ein markantes Beispiel für die richterliche Kontrolle von Freiheitsentzug und unterstreicht die verfassungsrechtliche Dimension des Beschleunigungsgebots in Haftsachen.

Fachanwalt für Strafrecht & IT-Recht bei Anwaltskanzlei Ferner Alsdorf
Rechtsanwalt Jens Ferner ist erfahrener Fachanwalt für Strafrecht sowie Fachanwalt für IT-Recht mit über einem Jahrzehnt Berufspraxis und widmet sich ganz der Tätigkeit als Strafverteidiger und dem IT-Recht - mit Schwerpunkten in Cybercrime, Cybersecurity, Softwarerecht und Managerhaftung. Er ist zertifizierter Experte für Krisenkommunikation & Cybersecurity; zudem Autor sowohl in Fachzeitschriften als auch in einem renommierten StPO-Kommentar zum IT-Strafprozessrecht sowie zur EU-Staatsanwaltschaft. Als Softwareentwickler ist er in Python zertifiziert und hat IT-Handbücher geschrieben.

Erreichbarkeit: Per Mail, Rückruf, Threema oder Whatsapp.

Unsere Kanzlei ist spezialisiert auf Starke Strafverteidigung, seriöses Wirtschaftsstrafrecht und anspruchsvolles IT-Recht inkl. IT-Sicherheitsrecht - ergänzt um Arbeitsrecht mit Fokus auf Managerhaftung. Von Verbrauchern werden allein Strafverteidigungen und im Einzelfall Fälle im Arbeitsrecht übernommen!
Rechtsanwalt Jens Ferner
Letzte Artikel von Rechtsanwalt Jens Ferner (Alle anzeigen)

Von Rechtsanwalt Jens Ferner

Rechtsanwalt Jens Ferner ist erfahrener Fachanwalt für Strafrecht sowie Fachanwalt für IT-Recht mit über einem Jahrzehnt Berufspraxis und widmet sich ganz der Tätigkeit als Strafverteidiger und dem IT-Recht - mit Schwerpunkten in Cybercrime, Cybersecurity, Softwarerecht und Managerhaftung. Er ist zertifizierter Experte für Krisenkommunikation & Cybersecurity; zudem Autor sowohl in Fachzeitschriften als auch in einem renommierten StPO-Kommentar zum IT-Strafprozessrecht sowie zur EU-Staatsanwaltschaft. Als Softwareentwickler ist er in Python zertifiziert und hat IT-Handbücher geschrieben.

Erreichbarkeit: Per Mail, Rückruf, Threema oder Whatsapp.

Unsere Kanzlei ist spezialisiert auf Starke Strafverteidigung, seriöses Wirtschaftsstrafrecht und anspruchsvolles IT-Recht inkl. IT-Sicherheitsrecht - ergänzt um Arbeitsrecht mit Fokus auf Managerhaftung. Von Verbrauchern werden allein Strafverteidigungen und im Einzelfall Fälle im Arbeitsrecht übernommen!