BGH zu den Haftungsmaßstäben bei Online-Verkaufsplattformen

Plattformhaftung reloaded: Mit Urteil vom 14. Dezember 2023 (Az. I ZR 112/23) hat der Bundesgerichtshof (BGH) seine bisherige Rechtsprechung zur Verantwortlichkeit von Online-Plattformen für rechtsverletzende Inhalte weiterentwickelt und dabei die Grundsätze der sogenannten Sharehosting-Haftung auf Verkaufsplattformen übertragen.

Im Zentrum steht die Frage, unter welchen Voraussetzungen Anbieter wie Amazon, eBay oder ähnliche Online-Marktplätze für von Dritten begangene Rechtsverletzungen – etwa Markenverletzungen – haften. Die Entscheidung konkretisiert zugleich die Anforderungen an Prüfpflichten und markiert die Abgrenzung zwischen neutraler Vermittlung und haftungsauslösender Mitwirkung.

Sachverhalt

Der Kläger, ein Markeninhaber, wandte sich gegen die beklagte Plattformbetreiberin, auf deren Portal Drittanbieter Produkte unter einer markenrechtlich geschützten Bezeichnung vertrieben. Der Plattformbetreiber hatte den betreffenden Verkaufsprozess zwar nicht selbst initiiert, jedoch eine aktive Rolle bei der Darstellung und Bewerbung der Produkte eingenommen. In Frage stand, ob und inwieweit ihm eine Haftung als Täter, Teilnehmer oder Störer für die Markenverletzung zukommen kann.

Die Beklagte verwies auf die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs in der Rechtssache „Louboutin/Amazon“ (C-148/21), in der bereits angedeutet worden war, dass Plattformbetreiber unter bestimmten Voraussetzungen als „eigene Anbieter“ wahrgenommen werden können. Der BGH nahm dies nun zum Anlass, die Haftungsmaßstäbe im Lichte des Unionsrechts neu zu justieren.

Rechtliche Analyse

Ausgangspunkt: Die Sharehosting-Rechtsprechung

Bereits seit den Entscheidungen „YouTube I und II“ (BGH, I ZR 140/15 und I ZR 53/17) hatte der Bundesgerichtshof ein dreistufiges Haftungssystem für Plattformbetreiber etabliert: keine allgemeine Vorabprüfungspflicht, aber eine Handlungspflicht nach Kenntniserlangung von konkreten Rechtsverletzungen. Dabei orientierte sich die Beurteilung maßgeblich daran, ob die Plattform eine neutrale technische Infrastruktur zur Verfügung stellt oder sich inhaltlich an der Veröffentlichung beteiligt.

Diese Systematik wird nun auch auf Verkaufsplattformen übertragen. Entscheidend sei – so der BGH –, ob der Plattformbetreiber sich die Präsentation des Angebots in einer Weise zu eigen macht, dass die Plattform als eigene Verkaufsstelle erscheint. Eine bloß technische oder organisatorische Unterstützung, wie sie bei klassischem Hosting vorliegt, reicht für eine Haftung nicht aus. Vielmehr müssen zusätzliche Umstände hinzutreten, die eine inhaltliche oder wirtschaftliche Mitverantwortung nahelegen.

Das „Zueigenmachen“ fremder Angebote

Zentral ist dabei der Begriff des „Zueigenmachens“. Der BGH stellt klar, dass Plattformbetreiber, die ein Verkaufsangebot optisch und funktional so in das eigene System integrieren, dass Dritte davon ausgehen müssen, es handele sich um ein eigenes Angebot, haftungsrechtlich wie eigenständige Anbieter behandelt werden können. Dies gilt insbesondere dann, wenn die Plattform Produkte bewirbt, ohne den Drittanbieter kenntlich zu machen, oder wenn der Kaufprozess vollständig über die Plattform abgewickelt wird.

Dieses Verständnis steht im Einklang mit der EuGH-Rechtsprechung in der Rechtssache „Louboutin“ (C-148/21), die dem Verbraucherhorizont eine entscheidende Rolle zuweist: Wird aus Sicht eines durchschnittlichen Nutzers nicht mehr deutlich, wer Anbieter des Produkts ist, kann eine Zurechnung erfolgen. Der BGH übernimmt diesen subjektiven Wahrnehmungsmaßstab in die nationale Dogmatik.

Prüfpflichten und Unterlassungshaftung

Wenn ein Zueigenmachen bejaht wird, sind Plattformen nicht mehr nur als „Störer“ in Anspruch zu nehmen, sondern als originäre Verletzer. Sie haften dann nicht nur auf Unterlassung, sondern ggf. auch auf Schadensersatz. Doch auch im Fall einer bloßen Störerhaftung trifft die Plattform ab Kenntnis konkrete Prüfpflichten. Der BGH wiederholt, dass diese Prüfpflichten weitreichender sind, sobald eine klare Verletzung erkannt wurde: Dann müsse nicht nur das konkrete Angebot entfernt, sondern auch überprüft werden, ob ähnliche Angebote vorhanden sind.

Zudem verschärft der BGH die Anforderungen an die Reaktion der Plattform auf Hinweise: Wer systematisch rechtsverletzende Angebote duldet oder auf Hinweise nicht effektiv reagiert, kann die Privilegierung des § 10 TMG (alte Fassung) bzw. Art. 6 DSA (neu) verlieren und sich haftbar machen.

Einordnung in das unionsrechtliche Haftungsgefüge

Der BGH stützt seine Wertungen auch auf den Digital Services Act (DSA), der seit Februar 2024 in Geltung steht. Zwar war dieser in der vorliegenden Sache noch nicht unmittelbar anwendbar, doch nimmt der BGH den neuen Rechtsrahmen bereits in den Blick. Er betont, dass auch der DSA zwischen passiven Vermittlern und aktiven Mitgestaltern unterscheidet – und nur ersteren das Haftungsprivileg zuerkennt.

Diese Orientierung an europarechtlichen Maßstäben ist begrüßenswert und notwendig, um Fragmentierungen im digitalen Binnenmarkt zu vermeiden. Die Einbeziehung des subjektiven Eindrucks des Durchschnittsnutzers als haftungsbegründendes Kriterium zeigt zudem, dass sich das Plattformrecht zunehmend an tatsächlichen Kommunikationsverhältnissen orientiert – weg von rein technischen, hin zu funktional-inhaltlichen Maßstäben.

Ausblick

Mit dem Urteil vom 14. Dezember 2023 stellt der Bundesgerichtshof klar, dass die Haftungsprivilegien für Plattformen keine pauschalen Freibriefe darstellen. Wer fremde Angebote derart in sein eigenes System integriert, dass sie als eigene erscheinen, übernimmt damit auch eine rechtliche Verantwortung. Die Entscheidung überträgt die bisherige Sharehosting-Dogmatik konsequent auf Verkaufsplattformen und trägt den gewandelten Erwartungen an die Rolle digitaler Intermediäre Rechnung. Die Konklusion lautet: Wer wie ein Händler auftritt, haftet wie ein Händler – auch im digitalen Raum.

Fachanwalt für Strafrecht & IT-Recht bei Anwaltskanzlei Ferner Alsdorf
Rechtsanwalt Jens Ferner ist erfahrener Fachanwalt für Strafrecht sowie Fachanwalt für IT-Recht mit über einem Jahrzehnt Berufspraxis und widmet sich ganz der Tätigkeit als Strafverteidiger und dem IT-Recht - mit Schwerpunkten in Cybercrime, Cybersecurity, Softwarerecht und Managerhaftung. Er ist zertifizierter Experte für Krisenkommunikation & Cybersecurity; zudem Autor sowohl in Fachzeitschriften als auch in einem renommierten StPO-Kommentar zum IT-Strafprozessrecht sowie zur EU-Staatsanwaltschaft. Als Softwareentwickler ist er in Python zertifiziert und hat IT-Handbücher geschrieben.

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Von Rechtsanwalt Jens Ferner

Rechtsanwalt Jens Ferner ist erfahrener Fachanwalt für Strafrecht sowie Fachanwalt für IT-Recht mit über einem Jahrzehnt Berufspraxis und widmet sich ganz der Tätigkeit als Strafverteidiger und dem IT-Recht - mit Schwerpunkten in Cybercrime, Cybersecurity, Softwarerecht und Managerhaftung. Er ist zertifizierter Experte für Krisenkommunikation & Cybersecurity; zudem Autor sowohl in Fachzeitschriften als auch in einem renommierten StPO-Kommentar zum IT-Strafprozessrecht sowie zur EU-Staatsanwaltschaft. Als Softwareentwickler ist er in Python zertifiziert und hat IT-Handbücher geschrieben.

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