OLG Köln zur Strafzumessung und zu Verteidigungsspielräumen bei § 263 StGB: Eine – durch unsere Revision entstandene – Entscheidung des OLG Köln vom 30. November 2023 (Az. III-1 ORs 145/23, 83 Ss 53/23) beleuchtet einen strafrechtlich wie sozialrechtlich hochbrisanten Themenkomplex: den Sozialleistungsbetrug nach § 263 StGB im Kontext von EU-Bürgern mit tatsächlichem Aufenthalt außerhalb Deutschlands. Dabei eröffnet der Beschluss nicht nur Einblicke in die Dogmatik des Betrugstatbestands, sondern weist auch Verteidigern juristisch relevante Angriffspunkte auf – insbesondere im Bereich der Strafzumessung.
Der Fall: Täuschung über gewöhnlichen Aufenthalt
Dem Angeklagten wurde zur Last gelegt, bei Weiterbewilligungsanträgen gegenüber dem Jobcenter falsche Angaben zum gewöhnlichen Aufenthalt gemacht zu haben. Tatsächlich lebte er mit Ehefrau und Tochter nicht in Deutschland, sondern in Rumänien – womit nach § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 SGB II die Leistungsberechtigung entfiel. Das Amtsgericht Aachen verurteilte ihn deshalb wegen Betrugs in drei Fällen und versuchten Betrugs zu einer Bewährungsstrafe von 1 Jahr und 6 Monaten. Zusätzlich wurde ein Betrag von über 52.000 Euro eingezogen.
Was das OLG korrigiert – und was nicht
Das OLG Köln bestätigt zwar den Schuldspruch und erkennt die Täuschungshandlung sowie den daraus folgenden rechtswidrigen Vermögensvorteil als ausreichend belegt an – ein für die Praxis bedeutsamer Punkt, da oft die Frage des tatsächlichen Aufenthaltsortes schwierig zu klären ist.
Doch im Bereich der Strafzumessung zieht das Gericht deutliche Grenzen:
- Keine ausreichende Begründung für „gewerbsmäßiges“ Handeln: Die pauschale Feststellung, der Angeklagte habe sich eine „fortlaufende Einnahmequelle“ verschaffen wollen, genügt nicht. Es fehlt an einer konkreten Beweiswürdigung. Das bedeutet: Auch bei wiederholtem Leistungsbezug muss das Merkmal der Gewerbsmäßigkeit individuell belegt und argumentativ unterfüttert werden.
- Kein „besonders großer Vermögensverlust“: Das OLG erinnert an die BGH-Rechtsprechung, wonach erst ab einem Schaden von 50.000 Euro von einem besonders schweren Fall wegen großen Vermögensverlusts auszugehen ist. Diese Schwelle wurde pro Einzelfall nicht überschritten, das Gericht hatte fälschlich die Gesamtsumme herangezogen.
- Indizwirkung von Regelbeispielen ist widerlegbar: Auch wenn ein Regelbeispiel wie das der Gewerbsmäßigkeit objektiv erfüllt sein sollte, zwingt dies nicht automatisch zur Anwendung des höheren Strafrahmens nach § 263 Abs. 3 StGB. Vielmehr ist stets eine Gesamtwürdigung aller Strafzumessungstatsachen vorzunehmen, bei der etwa auch Milderungsgründe wie ein Geständnis, eine Rückzahlung oder der soziale Hintergrund zu berücksichtigen sind.
- Versuchstat als Milderungsgrund: Bei versuchtem Betrug ist der vertypte Strafmilderungsgrund des § 23 Abs. 2 StGB zu beachten, der ebenfalls den besonders schweren Fall infrage stellen kann.
Verteidigungspotenziale im Überblick
Für die Strafverteidigung eröffnen sich mehrere Angriffspunkte:
- Bestreiten des Vorsatzes zur Täuschung über den Aufenthalt: Gerade bei komplexen persönlichen Lebenslagen (z. B. Pendeln, temporärer Aufenthalt, Unklarheit über Rechtslage) kann der Vorsatz infrage stehen. Die Rechtsprechung verlangt, dass der Angeklagte erkannt und gewollt haben muss, falsche Angaben zu machen.
- Keine schematische Anwendung von § 263 Abs. 3 StGB: Die bloße Höhe der unrechtmäßig bezogenen Leistungen oder die Wiederholung von Taten reicht nicht automatisch für einen besonders schweren Fall. Verteidigung sollte auf fehlende Begründung zur Gewerbsmäßigkeit und zu einem großen Schaden fokussieren.
- Verhältnismäßigkeitsprüfung einfordern: Der erhöhte Strafrahmen darf nur nach umfassender Gesamtwürdigung aller belastenden und entlastenden Umstände angewendet werden. Gerade bei erstmaliger Tatbegehung, fehlender krimineller Energie oder schwierigen wirtschaftlichen Verhältnissen kann der Unrechtsgehalt erheblich relativiert werden.
- Einziehungsumfang angreifen: Die Einziehung nach § 73 StGB verlangt den wirtschaftlichen Vorteil, den der Täter unmittelbar aus der Tat erlangt hat. Hier ist differenziert zu prüfen, ob tatsächlich der volle Leistungsbetrag oder nur der Differenzbetrag zur hypothetisch berechtigten Leistung einzuziehen ist.
- Rechtmäßige Anrechnung ausländischer Haftzeiten: Das OLG weist darauf hin, dass in der neuen Hauptverhandlung die in Rumänien verbüßte Auslieferungshaft nach § 51 StGB zwingend anzurechnen ist. Auch dies ist ein Detail, das die Verteidigung aktiv einfordern sollte.
Fazit
Die Entscheidung des OLG Köln unterstreicht, dass der Tatbestand des § 263 StGB im Kontext des Sozialleistungsbezugs differenziert zu beurteilen ist – insbesondere bei Fragen der Aufenthaltsfiktion und der Strafzumessung. Die Verteidigung hat gute Möglichkeiten, schematisches Vorgehen zu durchbrechen und auf eine gerechte, individuell angemessene Beurteilung hinzuwirken. Nicht zuletzt zeigt der Fall, dass auch bei moralisch aufgeladenen Vorwürfen wie „Sozialbetrug“ rechtsstaatliche Präzision geboten ist – und gerade darin liegt die Stärke der Strafverteidigung.
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