Keine stillschweigende Zustimmung: In der strafvollstreckungsrechtlichen Praxis stellt sich regelmäßig die Frage, unter welchen Voraussetzungen von einer mündlichen Anhörung des Sachverständigen abgesehen werden kann, wenn dessen schriftliches Gutachten in eine Entscheidung über die Aussetzung des Strafrestes zur Bewährung einfließt.
Das OLG Hamm hat sich in seinem Beschluss vom 7. April 2025 (1 Ws 76/25) mit dieser Thematik befasst und präzisiert, dass ein Verzicht der Staatsanwaltschaft auf eine mündliche Anhörung nach § 454 Abs. 2 Satz 3 StPO eindeutig erklärt werden muss. Bloßes Schweigen genüge nicht.
Ausgangspunkt der Entscheidung
Der Verurteilte war wegen bewaffneten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge zu fünf Jahren Freiheitsstrafe verurteilt worden. Nach Vollstreckung von zwei Dritteln der Strafe führte das Landgericht Dortmund ein Verfahren über die Aussetzung des Strafrests zur Bewährung durch. Im Zuge dessen wurde ein schriftliches Prognosegutachten eingeholt, das dem Verurteilten und dessen Verteidiger übermittelt wurde. Beide verzichteten ausdrücklich auf eine mündliche Anhörung des Sachverständigen.
Das Gericht fragte auch bei der Staatsanwaltschaft Münster an, ob diese ihrerseits auf eine solche Anhörung verzichten wolle, erhielt darauf aber keine ausdrückliche Erklärung. Vielmehr wurde das Vollstreckungsheft mit dem Hinweis zurückgesandt, man widerspreche der Aussetzung des Strafrestes nicht. In der Folge setzte die Strafvollstreckungskammer den Strafrest zur Bewährung aus, ohne eine mündliche Anhörung des Sachverständigen durchzuführen.
Der Wendepunkt: Neue belastende Erkenntnisse und nachträgliches Rechtsmittel
Unmittelbar nach der Entscheidung wurde beim Verurteilten ein Mobiltelefon aufgefunden, das auf illegale Geschäfte mit unversteuerten Zigaretten während der Haftzeit hindeutete. Die Staatsanwaltschaft legte daraufhin sofortige Beschwerde ein, obwohl sie zuvor eine formlose Erklärung abgegeben hatte, keine Rechtsmittel einlegen zu wollen. Diese Erklärung war allerdings noch nicht beim Gericht eingegangen, als die Beschwerde einging, sodass die Möglichkeit eines wirksamen Widerrufs bestand.
Rechtliche Bewertung durch das OLG Hamm
Der Strafsenat hob die Entscheidung der Strafvollstreckungskammer auf und verwies die Sache zur erneuten Entscheidung zurück. Dabei stellte das Gericht zwei entscheidende rechtliche Punkte heraus.
Erstens fehle es an einer ordnungsgemäßen Verzichtserklärung der Staatsanwaltschaft im Sinne von § 454 Abs. 2 Satz 4 StPO. Der Verzicht auf die mündliche Anhörung müsse eindeutig und unmissverständlich erklärt werden. Das bloße Zurücksenden des Vollstreckungsheftes ohne ausdrückliche Verzichtserklärung sei nicht ausreichend. Ein konkludentes Verhalten könne hier nicht angenommen werden, zumal auch das Schweigen der Staatsanwaltschaft auf eine konkrete gerichtliche Anfrage unterschiedliche Ursachen haben könne. Die Rechtsprechung des OLG Hamm steht damit im Einklang mit der Linie anderer Obergerichte, insbesondere des OLG Celle und des Kammergerichts, die eine formstrenge Handhabung des Verzichtserfordernisses betonen.
Zweitens sah der Senat in der Einlegung der sofortigen Beschwerde keine unzulässige Rücknahme eines bereits wirksam erklärten Rechtsmittelverzichts. Der Verzicht wird prozessual erst mit Eingang beim Gericht wirksam. Da die Beschwerde zeitlich davor eingelegt worden war, sei die Erklärung der Staatsanwaltschaft – sofern man sie überhaupt als verbindlichen Verzicht werten wollte – rechtlich noch widerrufbar gewesen. Damit war der Weg für das Rechtsmittel frei.
Bedeutung der mündlichen Anhörung im Kontext des § 454 StPO
Der Beschluss unterstreicht den hohen Stellenwert der mündlichen Anhörung des Sachverständigen im Rahmen der Prognoseentscheidung. Diese soll sicherstellen, dass die Verfahrensbeteiligten Gelegenheit erhalten, die Expertise des Sachverständigen kritisch zu hinterfragen und gegebenenfalls ergänzende Fragen zu stellen. Der Gesetzgeber hat diese Anhörung als Regelfall konzipiert; der Verzicht stellt die Ausnahme dar und bedarf einer eindeutigen, dokumentierten Willenserklärung aller Beteiligten.
Indem die Strafvollstreckungskammer trotz fehlender Verzichtserklärung der Staatsanwaltschaft auf die Anhörung verzichtete, verstieß sie gegen zwingendes Verfahrensrecht. Das OLG Hamm macht deutlich, dass dies ein relevanter Verfahrensfehler ist, der zur Aufhebung der Entscheidung führt. Eine Heilung im Beschwerdeverfahren sei ebenfalls ausgeschlossen, da eine Nachholung der Anhörung im Beschwerdeverfahren nicht vorgesehen ist.
Schlussfolgerung
Die Entscheidung des OLG Hamm bringt Klarheit in eine dogmatisch bislang teilweise umstrittene Frage: Ein Verzicht auf die mündliche Anhörung des Sachverständigen nach § 454 Abs. 2 Satz 3 StPO durch die Staatsanwaltschaft muss ausdrücklich und eindeutig erklärt werden. Schweigen genügt nicht. Die formalen Anforderungen an die Verfahrensgestaltung bleiben hoch, was im Sinne der Rechtsstaatlichkeit und prozessualen Absicherung nachvollziehbar ist. Die Strafvollstreckungskammern sind gut beraten, sich im Zweifel eine klare, schriftliche Verzichtserklärung beider Seiten vorlegen zu lassen, bevor sie auf die mündliche Befragung eines Sachverständigen verzichten. Nur so lässt sich eine rechtssichere Entscheidung über die Aussetzung des Strafrestes treffen.
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