Wie geht man damit um, wenn jemand so erhebliche Schmerzen hat, dass er es unerträglich findet, wenn kein Cannabis konsumiert wird?
Aktuelle Gesetzeslage
Der Gesetzgeber wollte schwerwiegend erkrankten Menschen zur Linderung ihrer Leiden den betäubungsmittelrechtlichen Zugang zu anderen Cannabisarzneimitteln eröffnen, nämlich dann, wenn eine ärztliche Therapie mit allen anderen zur Behandlung der vorliegenden Erkrankung oder Symptomatik zugelassenen oder verfügbaren und verkehrsfähigen Arzneimitteln keinen weiteren Erfolg gezeigt hat.
Aus Gründen der Sicherheit des Betäubungsmittelverkehrs und andererseits im Interesse einer Versorgung mit Produkten in standardisierter Qualität hat der Gesetzgeber in diesem Zusammenhang jedoch sichergestellt, dass die Herstellung der Produkte zu medizinischen Zwecken ausschließlich unter staatlicher Kontrolle erfolgen muss, und zugleich durch die Neuregelung im SGB V einen Anspruch der Versicherten auf Versorgung mit Cannabis in eng begrenzten Ausnahmefällen geschaffen (vgl. BT-Drs. 18/8965, S. 13 f., 22 f.). Dem folgend hat der Gesetzgeber in den nunmehr maßgeblichen Regelungen der §§ 13 BtMG, 31 Abs. 6 SGB V eine ebenso abschließende Wertung für den zulässigen Umgang der Betroffenen mit entsprechenden Cannabisprodukten geschaffen.
Und wenn es zu lange dauert?
Was ist nun, wenn man den Weg des § 13 BtMG beschreiten möchte, dies aber viel zu lange dauert und die Schmerzen unerträglich werden? Hier könnte ein rechtfertigender Notstand vorliegen: Ob ein rechtfertigender Notstand in den Fällen vorliegt, in denen der Betroffene zwar die Lösung auf dem vom Gesetzgeber vorgesehenen Weg gesucht hat, dieser Rechtsweg aber (noch) nicht abschließend beschritten ist, bedarf nach dem Grundgedanken der abschließenden Beurteilung des Betäubungsmittelrechts einer umfassenden Würdigung des Einzelfalls – und zwar bereits im Rahmen der Erforderlichkeit der Notstandshandlung:
Dabei anerkennt der Senat, den Ausführungen des Landgerichts im Grundsatz folgend, dass eine Rechtfertigung im Ausnahmefall jedenfalls dann in Betracht kommen kann, wenn die vom Betroffenen angestrebte legale Lösung über die vom Gesetzgeber hierfür vorgesehenen Verfahren nicht innerhalb einer angemessenen Zeit gefunden werden konnte. Denn ein Betroffener kann nur dann auf den vom Gesetzgeber vorgegebenen legalen Weg verwiesen werden, wenn dieser ein tatsächlich gleich geeignetes, milderes Mittel darstellt. Dies ist grundsätzlich nur dann der Fall, wenn eine abschließende Entscheidung innerhalb einer angemessenen Zeit herbeigeführt wird. Denn Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 19 Abs. 4 und Art. 20 Abs. 3 GG begründen einen Anspruch jedes einzelnen Bürgers auf effektiven Rechtsschutz, der u.a. gebietet, strittige Rechtsverhältnisse in angemessener Zeit zu klären (vgl. BVerfGE 88, 118, 124; 60, 253, 269).
Für die Bewertung einer angemessenen Zeitdauer bestehen aber keine starren Grenzen, so dass nicht pauschal auf den Ablauf von zwei oder mehr Jahren abgestellt werden kann. Es sind vielmehr – in Anlehnung an den Gedanken des allgemeinen Rechtsgewährungsanspruchs und § 198 Abs. 1 S. 1 GVG – sämtliche Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, insbesondere die Natur des Verfahrens und die Bedeutung der Sache für die Parteien, die Auswirkungen einer langen Verfahrensdauer für die Beteiligten, die Schwierigkeit der Sachmaterie, das den Beteiligten zuzurechnende Verhalten, insbesondere Verfahrensverzögerungen durch sie sowie die gerichtlich nicht zu beeinflussenden Tätigkeit Dritter, vor allem der Sachverständigen (vgl. BVerfG, NJW 2001, 214, 215; Kleine-Cosack in: Kleine-Cosack, Verfassungsbeschwerden und Menschenrechtsbeschwerde, 3. Aufl. 2013, dd) Kriterien der Unangemessenheit der Verfahrensdauer; Graf, in: Beck-OK GVG, 20. Ad. 2023, § 198 Rn. 7). Zur Beurteilung der Frage, ob der tatbestandsmäßige Betäubungsmittelbesitz zum therapeutischen Eigenkonsum ausnahmsweise gerechtfertigt ist, bedarf es vor diesem Hintergrund jedenfalls Ausführungen zu den wesentlichen Gründen der (bisher ergangenen) ablehnenden Entscheidungen und Feststellungen zu den Umständen, warum bislang keine abschließende Entscheidung ergangen ist. Auch ist maßgeblich von Interesse, inwieweit der Betroffene von den ihm gesetzlich zur Verfügung stehenden Eilrechtschutzmöglichkeiten (nicht) Gebrauch gemacht hat. Ebenfalls bedeutsam in diesem Zusammenhang ist das konkrete Ausmaß der gesundheitlichen Beeinträchtigung und der ohne Cannabiskonsum drohenden Gefährdung sowie der Grad der durch den Konsum hervorgerufenen Verbesserung.
Dabei kommt es nicht darauf an, ob die Voraussetzungen für die Erteilung einer ärztlichen Verschreibung bzw. für eine Kostenübernahme nach § 31 Abs. 6 SGB V entgegen der zuständigen behördlichen Entscheidung tatsächlich vorgelegen hätten. Es bedarf mithin keiner inzidenten Rechtmäßigkeitsüberprüfung (vgl. BGH, a.a.O., NJW 2016, 2818, 2819; NStZ 2018, 226, 227). Aber das konkrete Ausmaß der Erkrankung und der mit ihr einhergehenden Beeinträchtigungen sowie die konkrete durch den Betäubungsmittelkonsum eingetretene Besserung sind letztlich nicht nur wesentliche Faktoren im Rahmen der Interessenabwägung nach § 34 StGB, sondern beeinflussen maßgeblich auch die Zeitdauer, die der Betroffene zuwarten muss, um eine Lösung über die vom Gesetzgeber hierfür vorgesehenen Verfahren zu suchen, bevor eine von ihm tatbestandsmäßige Handlung durch Notstand gerechtfertigt sein kann.
Oberlandesgericht Hamm, 1 ORs 27/23
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