Irrtum im Strafrecht: BGH zur Reichweite des § 16 Abs. 2 StGB

Eine der Grundfragen des allgemeinen Strafrechts ist nunmehr vom 4. Senat aufgegriffen worden: Ist ein milderes Gesetz im Sinne des § 16 Abs. 2 StGB allein eine privilegierende lex specialis? Der 4. Senat bejaht dies sehr ausführlich. Dabei macht er deutlich, dass er mit der bisherigen Rechtsprechung bricht: Soweit der , der sich zur Frage der Reichweite des § 16 Abs. 2 StGB bislang nicht näher geäußert hat (es wird auf BGH, 2 StR 145/11 verwiesen), in einer vor Einführung des § 16 Abs. 2 StGB ergangenen, ersichtlich vereinzelt gebliebenen Entscheidung (BGH, 2 StR 247/71) sinngemäß die Rechtsauffassung vertreten hat, bei einem über ein Tatbestandsmerkmal sei der Täter bei objektiver Verwirklichung eines schwereren Tatbestands mit ähnlichem Unrechtsgehalt nach der milderen Vorschrift zu bestrafen, vermochte der 4. Senat dem ebenso wenig zu folgen wie der von Teilen der Literatur vertretenen Ausweitung des Begriffs des milderen Gesetzes.

Denn: Ein solches Verständnis führt im Ergebnis zu einer Umkehrung der vom Gesetzgeber gewollten und im Wortlaut und in der systematischen Stellung der Norm zum Ausdruck kommenden Funktion des § 16 Abs. 2 StGB, wie der 4. Aus einer Regelung, die in erster Linie den Täter wegen seines Irrtums begünstigen soll, wird eine Regelung, die seine Strafbarkeit erweitert oder gar erst begründet, wenn das Gesetz für den Versuch des „minder schweren“ Delikts keine Strafbarkeit vorsieht.

Unter einem milderen Gesetz im Sinne des § 16 Abs. 2 StGB ist nur eine privilegierende lex specialis zu verstehen, d.h. ein Straftatbestand, der alle Merkmale des Grundtatbestandes sowie ein weiteres privilegierendes Merkmal enthält. § 16 Abs. 2 StGB ist mit dem BGH unter Berücksichtigung des Wortlauts und der Entstehungsgeschichte der Vorschrift, ihrer systematischen Stellung sowie des mit ihr verfolgten Zwecks eine Privilegierungsvorschrift für Täter in einer besonderen Irrtumskonstellation:

§ 16 Abs. 2 StGB ist durch das Zweite Gesetz zur Reform des Strafrechts (BGBl. I. 1969, S. 717) mit Wirkung zum 1. Januar 1975 (BGBl. I. 1973, S. 309) in das Strafgesetzbuch eingeführt worden. Zuvor gab es keine vergleichbare Regelung. Mit dieser Vorschrift wurde die bis dahin vorherrschende, mit unterschiedlichen Begründungen praeter legem vertretene Auffassung zum Gesetz erhoben (vgl. Vogel/Bülte in LK-StGB, 13. Aufl., § 16 Rn. 98; Schroeder in LK-StGB, 9. Aufl., § 59 Rn. 80 mwN; siehe im Einzelnen Küper, GA 1968, 321 ff.), wonach ein Täter, der einen Grundtatbestand vorsätzlich verwirklicht und dabei irrtümlich von (weiteren) Umständen ausgeht, die eine privilegierende Strafnorm erfüllen, nicht nach dem Grundtatbestand, sondern nur nach dem – vollendeten – milderen Tatbestand zu bestrafen sei (vgl. BT-Drucks. IV/650, S. 133; Begründung des E 1962, dort noch zu § 19 Abs. 2 StGB). Diese gesetzgeberische Zielsetzung hat im Wortlaut der Norm ihren Niederschlag gefunden. Zwar enthält die Wendung, wonach derjenige in den Genuss der Vorteile des § 16 Abs. 2 StGB kommen soll, der irrig Umstände annimmt, welche den Tatbestand eines „milderen Gesetzes“ verwirklichen würden, keine konkrete Aussage dazu, in welchem systematischen Verhältnis die in Betracht kommenden Tatbestände zueinander stehen müssen. Deshalb wird § 16 Abs. 2 StGB auch in Konstellationen für anwendbar gehalten, in denen Straftatbestände mit ähnlichem Unrechtskern, aber unterschiedlich hohen Strafandrohungen in Rede stehen (vgl. Mitsch, ZStW 2012, 323, 338 zu § 184b, § 184c StGB). Die auf der Rechtsfolgenseite gewählte Formulierung, dass der Täter wegen vorsätzlicher Begehung „nur“ nach dem milderen Gesetz bestraft werden kann, macht aber hinreichend deutlich, dass sich diese Regelung auf Fälle bezieht, in denen der Vorsatz des Täters alle Umstände umfasst, die den Tatbestand des schwereren Deliktes erfüllen, so dass er ohne die zu seiner geschaffene Regelung des § 16 Abs. 2 StGB aus diesem zu bestrafen wäre, weil die hierfür erforderlichen Voraussetzungen in objektiver und subjektiver Hinsicht vollständig vorliegen. Eine solche Konstellation liegt vor, wenn es sich bei dem Tatbestand des „milderen Gesetzes“ um die Privilegierung eines mit höherer Strafe bedrohten Grunddeliktes handelt (vgl. dazu Joerden, Logik im Recht, S. 130, 132). Sie ist nicht gegeben, wenn die beiden in Rede stehenden Delikte zueinander im Verhältnis der Alternativität stehen (vgl. dazu Puppe, JR 1984, 229, 232) und der festgestellte Sachverhalt in objektiver Hinsicht das schwerere Delikt verwirklicht, während der Täter irrig von Umständen ausgeht, die – lägen sie vor – den Tatbestand des anderen, „milderen“ Delikts erfüllen würden.

(2) Nach dem Regelungskonzept des Gesetzgebers hat § 16 Abs. 2 StGB somit in erster Linie die Funktion, in den bezeichneten Irrtumsfällen die Anwendung des schwereren Tatbestands auszuschließen, um den Täter besser zu stellen, als er ohne die Regelung stehen würde. Dieser Funktion entspricht auch die systematische Stellung der Norm im Gefüge der Irrtumsvorschriften. Denn sowohl der vorstehende § 16 Abs. 1 StGB als auch der nachstehende § 17 StGB sind Vorschriften, die den Täter unter den Voraussetzungen eines Tatsachen- bzw. Rechtsirrtums begünstigen.

Die zweite Funktion des § 16 Abs. 2 StGB liegt – gleichsam als Kehrseite – darin, die Bestrafung des Täters wegen Vollendung des milderen Tatbestands zu ermöglichen, obwohl dogmatisch-konstruktiv nur ein Versuch vorliegt, da der Täter ein objektives Merkmal des milderen Tatbestands – nämlich dasjenige, das dessen Anwendung anstelle des schwereren Tatbestands bewirkt – lediglich irrtümlich annimmt. Ungeachtet der Frage, ob § 16 Abs. 2 StGB die Erfüllung des objektiven Tatbestands des milderen Strafgesetzes fingiert, um das „dogmatisch Unmögliche positivgesetzlich möglich zu machen“ (vgl. Mitsch, ZStW 2012, 323, 339), oder diese Rechtsfolge aus der „materielle[n] Wertstruktur des Privilegierungsirrtums“ (vgl. Küper, Jura 2007, 260, 263) folgt, belegt die strafbegründende Wirkung der Irrtumsregelung ihren Ausnahmecharakter. Dies spricht dafür, sie eng auszulegen und auf Fälle der Privilegierung zu beschränken (im Ergebnis wohl ebenso Puppe in NK-StGB, 5. Aufl., § 16 Rn. 3).

Schließlich ginge die Rechtsfolgenanordnung des § 16 Abs. 2 StGB auch teilweise ins Leere, wenn unter den Begriff des milderen Gesetzes auch eine solche Vorschrift zu fassen wäre, bei der das „privilegierende“ Tatbestandsmerkmal nicht zu den Merkmalen eines anderen Tatbestands hinzutritt, sondern an die Stelle eines der Merkmale dieses Tatbestands tritt. Denn die primäre Funktion des § 16 Abs. 2 StGB – Ausschluss der Bestrafung aus dem schwereren Tatbestand – käme hier nicht zum Tragen, da dieser in subjektiver Hinsicht bereits deshalb nicht erfüllt ist, weil sich der Täter insoweit in einem Tatbestandsirrtum gemäß § 16 Abs. 1 StGB befindet.

BGH, 4 StR 168/21
Rechtsanwalt Jens Ferner (Fachanwalt für IT- & Strafrecht)
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Ich bin Fachanwalt für Strafrecht + Fachanwalt für IT-Recht und widme mich beruflich ganz der Tätigkeit als Strafverteidiger und dem IT-Recht. Vor meinem Leben als Anwalt war ich Softwareentwickler. Ich bin Autor sowohl in einem renommierten StPO-Kommentar als auch in Fachzeitschriften.

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