Der Bundesgerichtshof (BGH) hat in seinem Urteil vom 30. April 2024 (1 StR 426/23) wesentliche Aspekte zur Bindungswirkung der A1-Entsendebescheinigung im arbeitsstrafrechtlichen Kontext klargestellt.
Dieses Urteil behandelt die strafrechtlichen Konsequenzen im Zusammenhang mit dem Vorenthalten und Veruntreuen von Arbeitsentgelt und stellt die Bedeutung der A1-Bescheinigung heraus, insbesondere wie diese Bescheinigung die Sozialversicherungspflicht und die Zuständigkeit der deutschen Behörden beeinflusst.
Sachverhalt
Im vorliegenden Fall wurden die Angeklagten D. und S. unter anderem wegen des Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt (§ 266a StGB) verurteilt. Der Angeklagte D. führte ein Bauunternehmen, während S. als Prokurist für eine litauische Firma tätig war. Beide Unternehmen beschäftigten Arbeitnehmer aus Drittstaaten, für die litauische Entsendebescheinigungen vorlagen, die später widerrufen wurden.
Rechtliche Analyse
Bindungswirkung der A1-Entsendebescheinigung
Die A1-Bescheinigung bestätigt, dass ein Arbeitnehmer weiterhin den Sozialversicherungsvorschriften des Heimatstaates unterliegt, während er vorübergehend in einem anderen Mitgliedstaat arbeitet. Der BGH stellte klar, dass diese Bescheinigungen eine Bindungswirkung für die Sozialversicherungsträger anderer Mitgliedstaaten haben, solange sie nicht vom ausstellenden Staat widerrufen werden:
Im Übrigen käme eine Verurteilung wegen Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt betreffend die Arbeitnehmer, für die Entsendebescheinigungen vorlagen, auch deshalb nicht in Betracht, weil eine von einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union erteilte Entsendebescheinigung A1 auch die deutschen Organe der Strafrechtspflege bindet (…)
Der Übergang von der VO 1408/71 und der VO 574/72 zu der VO 883/2004 und der VO 987/2009 hat unter dem Gesichtspunkt der Bindungswirkung zu keiner wesentlichen Veränderung geführt. Art. 5 Abs. 1 VO 987/2009, wonach vom Träger eines Mitgliedstaats ausgestellte Dokumente, in denen der Status einer Person für die Zwecke der Anwendung der Grundverordnung und der Durchführungsverordnung bescheinigt wird, sowie Belege, auf deren Grundlage die Dokumente ausgestellt wurden, für die Träger der anderen Mitgliedstaaten so lange verbindlich sind, wie sie nicht von dem Mitgliedstaat, in dem sie ausgestellt wurden, widerrufen oder für ungültig erklärt werden, kodifiziert die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union zu Art. 11 Abs. 1 VO 574/72
Diese Bindungswirkung bedeutet, dass die deutschen Behörden die Bescheinigung anerkennen müssen und somit keine Beiträge zur deutschen Sozialversicherung erhoben werden können, solange die Bescheinigung gültig ist.
Bindung der Verwaltungsentscheidung
Der BGH betont nochmals seine Rechtsprechung, wonach vor dem Hintergrund des Bestimmtheitsgrundsatzes (Art. 103 Abs. 2 GG) bei verwaltungsakzessorischen Straftatbeständen die Verwaltungsentscheidung grundsätzlich Tatbestandswirkung entfaltet.
Dabei kommt es nur auf die formelle Wirksamkeit der Entscheidung, nicht aber auf ihre materielle Rechtmäßigkeit an. Da die Tatbestandswirkung auf dem Bestimmtheitsgrundsatz beruht, kann sie strafrechtlich nicht rückwirkend beseitigt werden, unabhängig davon, ob eine solche Rückwirkung verwaltungsrechtlich möglich wäre oder ob dem insbesondere sozialversicherungsrechtlich die Grundsätze der Vorhersehbarkeit und Rechtssicherheit gerade für die betroffenen Arbeitnehmer entgegenstehen.
Missbrauch und Betrug
Der BGH betonte jedoch auch, dass bei missbräuchlicher oder betrügerischer Erlangung der A1-Bescheinigung diese Bindungswirkung entfallen kann und wird:
Unionsrechtlich binden nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union selbst missbräuchlich oder betrügerisch erwirkte Bescheinigungen andere Mitgliedstaaten (vgl. BGH, Urteil vom 24. Oktober 2006 – 1 StR 44/06, BGHSt 51, 124, Rn. 26 ff.).
Aus dem allgemeinen unionsrechtlichen Grundsatz des Verbots von Betrug und Rechtsmissbrauch ergibt sich insofern zunächst nur, dass der Träger, der die Entsendebescheinigungen A1 ausgestellt hat, ihm von dem Träger des Mitgliedstaats, in den Arbeitnehmer entsendet wurden, vorgelegte Beweise, die den Schluss zulassen, dass diese Bescheinigungen betrügerisch erlangt wurden, gemäß dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit zu prüfen und zu Unrecht ausgestellte Bescheinigungen gegebenenfalls zurückzuziehen hat.
Erst wenn der ausstellende Träger dieser Verpflichtung nicht nachkommt und der Mitgliedstaat, in den der Arbeitnehmer entsendet wurde, einen Betrug ordnungsgemäß festgestellt hat, kann er die Bescheinigungen außer Acht lassen
Der Mitgliedstaat, der die Bescheinigung ausgestellt hat, muss Beweise prüfen, die auf einen Betrug hinweisen, und gegebenenfalls die Bescheinigung zurückziehen. Wenn der ausstellende Staat dies nicht tut und der empfangende Mitgliedstaat einen Betrug nachweist, kann die Bescheinigung außer Acht gelassen werden.
Arbeitsstrafrechtlicher Kontext
Im arbeitsstrafrechtlichen Kontext kommt der A1-Bescheinigung eine wesentliche Bedeutung zu. Eine strafrechtliche Verfolgung wegen Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt setzt voraus, dass die Arbeitnehmer in Deutschland sozialversicherungspflichtig sind. Liegt eine gültige A1-Bescheinigung vor, so entfällt diese Pflicht, und eine Strafverfolgung ist nicht möglich. Erst nach dem Widerruf der Bescheinigung oder dem Nachweis eines Betrugs wird die Strafverfolgung wieder relevant.
Fazit
Das Urteil des BGH betont die Bedeutung der A1-Entsendebescheinigung im Rahmen der europäischen Sozialversicherung und ihre Auswirkungen auf die arbeitsstrafrechtliche Verantwortlichkeit. Unternehmen müssen sicherstellen, dass die Bescheinigungen korrekt und rechtmäßig erworben werden, um strafrechtliche Konsequenzen zu vermeiden.
Damit ist eine Strafbarkeit aber nicht ausgeschlossen. Der BGH stellt klar, dass bei erschlichener A1-Entsendebescheidungung von der strafrechtlichen Tatbestandswirkung des Verwaltungsakts eine mögliche Strafbarkeit nach § 263 StGB nicht berührt ist, denn: der Tatbestand des § 263 StGB ist, anders als derjenige des § 266a StGB, insofern nicht verwaltungsakzessorisch ist.
Gleichzeitig zeigt das Urteil, dass bei missbräuchlicher Nutzung der Bescheinigungen die Bindungswirkung aufgehoben werden kann, was zu einer strafrechtlichen Verfolgung führen kann.
- BGH zur heimlichen Überwachung und Täuschung durch Ermittler - 1. Dezember 2024
- Populäre Musik und politische Veranstaltungen: Rechte der Künstler und urheberrechtliche Grenzen - 1. Dezember 2024
- Herausforderungen bei der Entwicklung von KI-Systemen: Juristische Fallstricke für Softwareentwickler - 30. November 2024