Totschlag bei palliativer Sterbebegleitung?

Der Beschluss des Bundesgerichtshofs (BGH) vom 29. Mai 2024, Az. 4 StR 138/22, behandelt die strafrechtliche Verantwortlichkeit eines Anästhesisten im Zusammenhang mit der Behandlung eines schwer erkrankten Patienten, bei dem die Grenze zwischen erlaubter palliativer Sterbebegleitung und strafbarer Tötungshandlung überschritten wurde.

Sachverhalt

Der Angeklagte, ein Facharzt für Anästhesiologie mit intensivmedizinischer Zusatzausbildung, war als Funktionsoberarzt auf der Intensivstation eines Universitätsklinikums tätig. Während der zweiten Corona-Welle im Herbst 2020 betreute er einen Patienten, der an einer schweren SARS-CoV-2-Infektion litt und dessen Lungenfunktion fast vollständig ausgefallen war. Der Patient war auf eine ECMO-Behandlung angewiesen, doch trotz maximaler Behandlung verschlechterte sich sein Gesundheitszustand.

Am 13. November 2020, nach einer weiteren Verschlechterung des Patienten, schaltete der Angeklagte das ECMO-Gerät ab, reduzierte den Beatmungsdruck und verabreichte dem Patienten hohe Dosen verschiedener Medikamente, darunter Sufentanil, Clonidin, Sedalam und schließlich Kaliumchlorid, um den Tod des Patienten herbeizuführen. Der Angeklagte gab zu, in der Absicht gehandelt zu haben, den Sterbeprozess und das Leben des Patienten zu beenden.

Rechtliche Analyse

1. Strafbarkeit wegen Totschlags (§ 212 StGB)

Der Angeklagte wurde zunächst vom Landgericht Essen wegen Totschlags zu einer von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Die zentrale rechtliche Frage war, ob die Verabreichung der Medikamente, insbesondere des Kaliumchlorids, kausal für den Tod des Patienten war und ob dies mit Tötungsvorsatz geschah.

Nach § 212 StGB tötet einen Menschen, wer dessen Tod durch eine ihm zurechenbare Handlung vorsätzlich verursacht. Bei Patienten im Sterbeprozess ist entscheidend, ob die Handlung des Täters den Tod früher herbeiführt als es ohne diese Handlung der Fall gewesen wäre. Dies wird auf Basis der Bedingungstheorie beurteilt, wonach eine Handlung dann kausal ist, wenn sie nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass der Erfolg in seiner konkreten Gestalt entfiele.

2. Problem der Kausalität und Beweiswürdigung

Der BGH hob das Urteil des Landgerichts auf, da die Beweiswürdigung zur Kausalität der Kaliumchloridgabe für den Tod des Patienten nicht tragfähig war. Das Landgericht stützte seine Überzeugung maßgeblich auf die Angaben des Angeklagten, ohne ausreichend zu prüfen, ob die Kaliumchloridgabe tatsächlich kausal für den Tod war oder ob andere Faktoren wie die schwere Lungenentzündung, das Multiorganversagen oder die bereits zuvor vorgenommenen Behandlungsmaßnahmen den Tod herbeigeführt haben könnten.

Es fehlten genaue Feststellungen zur Dauer der Medikamentengabe und zum Zeitpunkt des Todeseintritts, was die Annahme der Kausalität spekulativ erscheinen ließ. Weiterhin wurde nicht zweifelsfrei belegt, dass die tödliche Dosis tatsächlich vor Todeseintritt wirksam wurde.

3. Subjektive Tatseite: Tötungsvorsatz

Das Landgericht hatte festgestellt, dass der Angeklagte spätestens um 18:38 Uhr den Entschluss fasste, den Sterbeprozess durch die Gabe einer hohen Dosis Kaliumchlorid zu beenden. Es mangelte jedoch an ausreichenden Feststellungen und Beweiserwägungen zum Vorstellungsbild des Angeklagten, insbesondere in Bezug auf den Abbruch der kurativen Therapie und die weiteren Medikamentengaben im Sterbeprozess. Der BGH wies darauf hin, dass es rechtsfehlerhaft war, den Angeklagten allein wegen der Kaliumchloridgabe zu verurteilen, ohne die möglichen anderen Todesursachen angemessen zu prüfen.

Fazit

Der BGH hob die Verurteilung wegen Totschlags auf und verwies die Sache zur neuen Verhandlung an eine andere Strafkammer des Landgerichts Essen. Die neue Verhandlung soll die Ursächlichkeit der verschiedenen Handlungen des Angeklagten für den Tod des Patienten klären, einschließlich der Berücksichtigung alternativer Todesursachen. Es muss insbesondere geprüft werden, ob der Angeklagte bereits bei der Entscheidung zum Abbruch der kurativen Therapie mit Tötungsvorsatz handelte oder ob der Tod allein durch die weitere medikamentöse Behandlung verursacht wurde.

Diese Entscheidung zeigt die komplexen Abwägungen im Arztstrafrecht, insbesondere bei Behandlungsentscheidungen am Lebensende, und unterstreicht die Notwendigkeit einer genauen Prüfung der kausalen Zusammenhänge und der subjektiven Tatseite, um die Grenze zwischen erlaubter ärztlicher Handlung und strafbarer Tötung zu bestimmen.

Rechtsanwalt Jens Ferner (Fachanwalt für IT- & Strafrecht)
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Von Rechtsanwalt Jens Ferner (Fachanwalt für IT- & Strafrecht)

Ich bin Fachanwalt für Strafrecht + Fachanwalt für IT-Recht und widme mich beruflich ganz der Tätigkeit als Strafverteidiger und dem IT-Recht. Vor meinem Leben als Anwalt war ich Softwareentwickler. Ich bin Autor sowohl in einem renommierten StPO-Kommentar als auch in Fachzeitschriften. Dabei bin ich fortgebildet in Krisenkommunikation und Compliance.

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