BGH zur Grenzziehung zwischen Regel- und Ausnahmefall bei Vergewaltigung: Mit Urteil vom 22. Januar 2025 (Az. 6 StR 387/24) hat der Bundesgerichtshof ein vielschichtiges Urteil zur Strafrahmenwahl bei besonders schwerem sexuellen Übergriff bestätigt und damit erneut die Grundsätze zur Differenzierung zwischen Regel- und Ausnahmefall im Sexualstrafrecht konturiert.
Der Senat hatte sich mit einem Fall zu befassen, der in seiner Brutalität und Erniedrigung der Geschädigten ohne weiteres zur Anwendung des strengen Regelstrafrahmens des § 177 Abs. 6 StGB hätte führen können. Das Landgericht hatte sich jedoch – trotz eines erwiesenermaßen besonders erniedrigenden Vorgehens – für die Annahme eines minder schweren Falles entschieden. Die Staatsanwaltschaft sah hierin einen rechtsfehlerhaften Strafnachlass, doch der BGH wies die Revision zurück und stärkte die Entscheidungsautonomie der Tatsacheninstanz.
Der Fall: Gewalt, Demütigung und trotzdem Strafmilderung?
Der Sachverhalt war in seiner Härte kaum zu relativieren: Der Angeklagte hatte sich der Geschädigten unter dem Vorwand der Hilfsbereitschaft genähert, war mit in ihre Wohnung gelangt und hatte dort unter Anwendung massiver körperlicher Gewalt versucht, sexuelle Handlungen gegen ihren Willen durchzusetzen. Neben zahlreichen Übergriffen – vom Drosseln mit einem Schal über die versuchte Fixierung mittels Haushaltsgegenständen bis hin zur Masturbation vor dem Opfer – war das Geschehen geprägt von wiederholtem sadistischen Verhalten und einem gezielten Eindringen in die Intimsphäre der Geschädigten. Die Nebenklägerin litt infolge der Tat an anhaltenden physischen und psychischen Folgen, einschließlich fortdauernder Ängste und einer eingeschränkten Lebensführung.
Angesichts dessen verwundert auf den ersten Blick die Anwendung des milderen Strafrahmens für minder schwere Fälle. Doch das Landgericht sah im frühen Geständnis, der ersparten Aussage der Geschädigten, dem sofortigen Schmerzensgeldangebot und der zuvor straflosen Vita des Angeklagten gewichtige Strafmilderungsgründe, die eine solche Einordnung rechtfertigen könnten. Maßgeblich war dabei auch, dass die Versuche, in die Geschädigte einzudringen, erfolglos blieben, und die Tat nicht mit einem „vollendeten Beischlaf“ endete.
Die Entscheidung des Bundesgerichtshofs
Der BGH bestätigte diese differenzierende Herangehensweise ausdrücklich. Er erinnerte zunächst an die Grundsätze revisionsgerichtlicher Zurückhaltung bei Strafzumessungsentscheidungen: Das Tatgericht verfüge über einen weiten Spielraum, in dem es Art und Gewicht der Umstände gegeneinander abzuwägen habe. Die Schwelle zur Unvertretbarkeit sei nur bei grob fehlerhafter Gewichtung überschritten – etwa, wenn bedeutsame Gesichtspunkte übersehen oder sachfremd bewertet würden.
Dies sei hier nicht der Fall. Vielmehr habe das Landgericht die erschwerenden Umstände – insbesondere das Eindringen in die Wohnung, die massive Gewaltanwendung und das psychische Nachwirken – ausdrücklich in die Erwägungen einbezogen. Gleichzeitig habe es die Strafmilderungsgründe nicht blindlings übernommen, sondern in eine umfassende Gesamtabwägung integriert, die auch die psychische Entlastung der Geschädigten durch das Geständnis als ein besonderes Gewicht anerkannte. Der Umstand, dass das Landgericht das Verhalten des Angeklagten trotz der objektiv herabwürdigenden Komponente unter dem Eindruck des Reueverhaltens als Ausnahmefall wertete, sei revisionsrechtlich nicht zu beanstanden.
Auch im Hinblick auf die Sperrwirkung des § 177 Abs. 6 StGB bestätigte der BGH die Rechtsauffassung der Vorinstanz. Diese habe zutreffend erkannt, dass die dort geregelte Mindeststrafe von zwei Jahren zu beachten sei – gleichwohl aber sei es zulässig gewesen, sich innerhalb des so begrenzten Rahmens am unteren Rand zu orientieren. Dass die maximale Strafhöhe des anzuwendenden Strafrahmens fehlerhaft berechnet worden sei, habe sich nicht ausgewirkt, da das Landgericht ohnehin einen Wert deutlich unterhalb dieser Grenze gewählt habe.
Fazit
Die Kernaussage dieser Entscheidung liegt in der Bestätigung richterlicher Autonomie bei der Strafzumessung: Auch bei objektiv schwerwiegenden Sexualstraftaten ist es nicht ausgeschlossen, im Einzelfall einen minder schweren Fall anzunehmen – sofern dies nachvollziehbar begründet und im Lichte aller Umstände des Einzelfalls vertretbar ist. Der BGH bekräftigt damit die Bedeutung des individuellen Verfahrensverlaufs und des Persönlichkeitsbildes des Täters bei der rechtlichen Bewertung. In Zeiten wachsender Sensibilität für sexualisierte Gewalt bleibt das Urteil zugleich ein Appell an differenzierte Rechtsprechung – jenseits öffentlicher Empörung, aber im vollen Bewusstsein strafrechtlicher Verantwortung.
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