LG Nürnberg zur Verhältnismäßigkeit der Beschlagnahme von Originalunterlagen und Herausgabe von Kopien im Steuerstrafrecht

Das Landgericht Nürnberg-Fürth (18. Strafkammer, Beschluss vom 01.08.2024 – 18 Qs 14/24) befasste sich mit der Verhältnismäßigkeit der von Original-Geschäftsunterlagen, der Erforderlichkeit der Herausgabe von Kopien an den Betroffenen und dem Ersatz von Kopierauslagen.

Verhältnismäßigkeit der Beschlagnahme von (Original-) Geschäftsunterlagen

Das Gericht stellte fest, dass die Beschlagnahme von Original-Geschäftsunterlagen im Einklang mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz stehen muss. Im Einzelfall ist eine Abwägung erforderlich zwischen dem Interesse der Allgemeinheit an einer effektiven Strafjustiz und den Grundrechten des Betroffenen, insbesondere dem Eigentumsrecht und der allgemeinen Handlungsfreiheit. Eine Beschlagnahme ist nur dann verhältnismäßig, wenn keine gleichwertige Alternative besteht, die den Betroffenen weniger belastet, ohne Dritte oder die Allgemeinheit stärker zu beeinträchtigen.

Rechtliche Ausführungen zu § 110 StPO

Gemäß § 110 sind Staatsanwaltschaften und ihre Ermittlungspersonen bei Durchsuchungen berechtigt, Papiere und elektronische Daten durchzusehen. Diese Durchsicht stellt keine formelle Sicherstellung oder Beschlagnahme dar, sondern dient ausschließlich der Prüfung, ob eine richterliche Beschlagnahme beantragt oder eine Rückgabe erforderlich ist.

Die Durchsicht darf nicht zur Auswertung der Beweismittel genutzt werden; dies ist erst nach einer richterlichen Anordnung der Beschlagnahme gemäß § 94 Abs. 2 in Verbindung mit § 98 Abs. 1 Satz 1 StPO zulässig. Die richterliche Beschlagnahme oder Bestätigung der Sicherstellung ist daher notwendig, bevor eine Auswertung vorgenommen werden darf:

Die Staatsanwaltschaft und auf deren Anordnung ihre Ermittlungspersonen sind gemäß § 110 StPO bei Durchsuchungen zur Durchsicht von Papieren und elektronischen Daten befugt. Die Durchsicht stellt noch keine formelle Sicherstellung oder Beschlagnahme dar (…). Vielmehr dient sie der Prüfung, ob eine richterliche Beschlagnahme zu beantragen oder eine Rückgabe notwendig ist (…).

Im Rahmen der Durchsicht ist eine Auswertung von Beweismitteln nicht gestattet; diese darf erst nach richterlicher Anordnung der Beschlagnahme gem. § 94 Abs. 2 i.V.m. § 98 Abs. 1 S. 1 StPO erfolgen (BVerfG, Beschluss vom 17.11.2022 – 2 BvR 827/21). Werden im Rahmen einer Unterlagen zur Durchsicht sichergestellt, ist grundsätzlich eine richterliche Beschlagnahme oder jedenfalls eine richterliche Bestätigung der Sicherstellung erforderlich, bevor die Unterlagen ausgewertet werden (vgl. LG Stralsund, Beschluss vom 26. Juli 2022 – 26
Qs 45/21). Dieses Zwischenstadium ist der endgültigen Entscheidung über die Beschlagnahme vorgelagert (vgl. BGH, Beschluss vom 18.05.2022 – StB 17/22).

Zu Beweisstücken im Sinne des § 147 Abs. 1 StPO werden die im Rahmen der Durchsuchung vorläufig sichergestellten Datenträger im Übrigen auch erst, wenn die Durchsicht gem. § 110 Abs. 1 StPO erfolgt und eine Beschlagnahmeanordnung ergangen ist (vgl. OLG Koblenz, Beschluss vom 30.03.2021 – 5 Ws 16/21).

Das LG Nürnberg führte weiter aus, dass im Rahmen der Prüfung der Angemessenheit einer Beschlagnahme insbesondere der zeitliche Faktor eine Rolle spielt. So sei bei der vorläufigen Sicherstellung zur Durchsicht nach § 110 StPO nur die Zeitspanne ab dem dokumentierten Ende der Durchsicht zu berücksichtigen, da bis zu diesem Punkt keine Beweismittelauswertung gestattet ist.

Definition und Bedeutung von Beweismitteln

Beweismittel sind nach der Rechtsprechung des LG Nürnberg alle Gegenstände, bei denen zumindest die nicht völlig fernliegende Möglichkeit besteht, dass sie im weiteren Verfahren zu Beweiszwecken verwendet werden können. Es ist dabei ausreichend, wenn bereits die Erwartung besteht, dass der Gegenstand oder dessen Untersuchung Aufschlüsse auf verfahrensrelevante Tatsachen zulässt. Es bedarf keiner überwiegenden Wahrscheinlichkeit, dass der Gegenstand tatsächlich als Beweismittel verwendet wird, und es muss auch noch nicht feststehen, für welche konkrete Beweisführung er letztlich in Betracht kommt:

Beweismittel sind alle Gegenstände, die mittelbar oder unmittelbar für die Tat oder die Umstände ihrer Begehung Beweis erbringen (…) oder für den Straffolgenausspruch Beweisbedeutung haben (…). Untersuchung im Sinne des § 94 StPO meint das Strafverfahren von seiner Einleitung bis zu seinem rechtskräftigen Abschluss (…). Das Vorliegen eines einfachen Anfangsverdachts genügt, ein bestimmter Verdachtsgrad wird nicht vorausgesetzt (…).

Dass zumindest der einfache Anfangsverdacht vorliegen muss, heißt, dass konkrete Tatsachen die Annahme belegen, es sei eine verfolgbare Straftat begangen worden, bloße Vermutungen genügen nicht (…).

Für die Bejahung der Bedeutung als Beweismittel für die Untersuchung ist es sowohl erforderlich als auch ausreichend, dass bei einer ex ante-Betrachtung die – nicht völlig fernliegende – Möglichkeit bejaht wird, dass der Gegenstand im weiteren Verfahren in irgendeiner Weise zu Beweiszwecken verwendet werden kann (…). Einer (überwiegenden) Wahrscheinlichkeit bedarf es ebenfalls nicht. Vielmehr genügt schon die Erwartung, dass der Gegenstand oder dessen Untersuchung Schlüsse auf verfahrensrelevante Tatsachen zulässt. Für welche Beweisführung er im Ergebnis in Betracht kommt, braucht noch nicht festzustehen (…). Es kommt auch nicht darauf an, ob der Gegenstand später tatsächlich als Beweismittel verwendet wird (…).

    Diese Ausführungen verdeutlichen das breite Verständnis von Beweismitteln – natürlich vor allem, um den Ermittlungsbehörden ausreichend Spielraum für eine effektive Strafverfolgung zu gewähren. Hier betont das Gericht, dass trotz dieser weiten Definition der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit stets gewahrt bleiben muss, insbesondere bei der Entscheidung über die Beschlagnahme von Originalen und die Möglichkeit der Rückgabe von Kopien.


    Erforderlichkeit der Herausgabe von Kopien an den Betroffenen

    Das Gericht betonte, dass dem Betroffenen die Möglichkeit eingeräumt werden sollte, Kopien der beschlagnahmten Unterlagen zu erhalten, wenn er diese für einen dringenden, nachvollziehbaren Zweck benötigt, wie beispielsweise die Fortführung seines Geschäftsbetriebs oder die Erstellung gesetzlich vorgeschriebener Abschlüsse. Es besteht jedoch kein allgemeines Recht auf die Fertigung und Herausgabe von Kopien aller sichergestellten Unterlagen. Stattdessen muss der Betroffene spezifisch darlegen, welche Kopien er benötigt und zu welchem Zweck.

    Ersatz von Kopierauslagen

    Bezüglich der Kosten für die Anfertigung von Kopien stellte das LG Nürnberg klar, dass diese nicht kostenneutral für den Antragsteller erfolgen müssen, sofern die gesetzlichen Voraussetzungen erfüllt sind. Das Gericht wies darauf hin, dass die Kostenregelungen der §§ 464a Abs. 1 Satz 2 StPO und des Gerichtskostengesetzes (GKG) anzuwenden sind, die die Erstattungsfähigkeit von Personal- und Sachkosten regeln. Überwiegend wird eine entsprechende Kostenpflicht angenommen, obwohl auch abweichende Auffassungen existieren, die von einer Kostenneutralität für den Betroffenen ausgehen.

    LG Nürnberg zur Verhältnismäßigkeit der Beschlagnahme von Originalunterlagen und Herausgabe von Kopien im Steuerstrafrecht - Rechtsanwalt Ferner

    Diese Entscheidung zeigt die Komplexität der Interessenabwägung bei Beschlagnahmen im wirtschaftlichen Kontext – in der Praxis läuft es leider im Regelfall eher schlecht als recht. Dabei ist es eine Standardsituation, dass etwa für eine anstehende Steuererklärung benötigte Unterlagen nicht zur Verfügung stehen und sich die Herausgabe von Kopien drastisch verzögert. Ein Umstand, der beim Finanzamt wiederum zu ständigen Diskussionen führt.

    Ausblick

    Das LG Nürnberg hat in seinem Beschluss die mit Blick auf die obergerichtliche Rechtsprechung bestehenden klaren Leitlinien für die Verhältnismäßigkeit der Beschlagnahme von Geschäftsunterlagen hervorgehoben. Die Entscheidung betont, dass die Rechte des Betroffenen angemessen berücksichtigt werden müssen, insbesondere durch die Möglichkeit der Anfertigung von Kopien, wenn diese für dringende betriebliche Zwecke erforderlich sind. Gleichzeitig wurde klargestellt, dass die entstehenden Kopierkosten nicht zwangsläufig von der Staatskasse getragen werden müssen, sondern unter bestimmten Voraussetzungen vom Betroffenen zu übernehmen sind.

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    Ich bin Fachanwalt für Strafrecht + Fachanwalt für IT-Recht und widme mich beruflich ganz der Tätigkeit als Strafverteidiger und dem IT-Recht. Vor meinem Leben als Anwalt war ich Softwareentwickler. Ich bin Autor sowohl in einem renommierten StPO-Kommentar als auch in Fachzeitschriften. Dabei bin ich fortgebildet in Krisenkommunikation und Compliance.

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