Streitfall Überstundenvergütung: Das Landesarbeitsgericht Niedersachsen hat sich in seiner Entscheidung vom 9. Dezember 2024 (Az. 4 SLa 52/24) ausführlich mit der Frage der Beweislast für Überstunden befasst. Dabei ging es insbesondere um die Anforderungen an die Darlegungslast des Arbeitnehmers und die Reaktion des Arbeitgebers darauf. Die Entscheidung ist von großer praktischer Bedeutung, da sie die abgestufte Darlegungs- und Beweislast bei Überstunden präzisiert und die Pflichten des Arbeitgebers hinsichtlich der Arbeitszeiterfassung beleuchtet. Diese Analyse beschäftigt sich eingehend mit den rechtlichen Problemen und den Implikationen des Urteils für die Arbeitsvertragsparteien.
Sachverhalt
Die Klägerin war von 2012 bis 2023 als Lageristin und kaufmännische Angestellte bei der Beklagten, einer Kfz-Werkstatt, beschäftigt. Im Arbeitsvertrag war eine regelmäßige Arbeitszeit von 24 Stunden pro Woche vereinbart. Tatsächlich machte die Klägerin geltend, regelmäßig Überstunden geleistet zu haben, und forderte hierfür eine Vergütung in Höhe von 50.367,60 Euro. Die Beklagte bestritt die Überstunden und verwies darauf, dass die Klägerin ihre Arbeitszeit eigenmächtig verlängert habe.
Das Arbeitsgericht wies die Klage ab, da die Klägerin die Überstunden nicht hinreichend substantiiert dargelegt habe. In der Berufung änderte das LAG Niedersachsen das Urteil teilweise ab und sprach der Klägerin Überstundenvergütung in Höhe von 46.531,42 Euro zu. Die Revision zum Bundesarbeitsgericht wurde zugelassen.
Die zentrale rechtliche Frage: Beweislast bei Überstunden
1. Abgestufte Darlegungs- und Beweislast
Das LAG stellte klar, dass für Überstundenvergütungen die sogenannte abgestufte Darlegungs- und Beweislast gilt:
- Erste Stufe: Der Arbeitnehmer muss darlegen, an welchen Tagen er von wann bis wann gearbeitet hat. Es genügt, konkrete Zeiträume und Tätigkeiten zu benennen.
- Zweite Stufe: Der Arbeitgeber muss darauf substantiiert erwidern, also konkret darlegen, dass die behaupteten Überstunden nicht geleistet wurden oder nicht angeordnet waren.
- Dritte Stufe: Gelingt dem Arbeitgeber dies nicht, gilt der Vortrag des Arbeitnehmers als zugestanden.
Im vorliegenden Fall hatte die Klägerin ihre Arbeitszeiten detailliert anhand von Kalendereintragungen dargelegt. Die Beklagte hingegen beschränkte sich auf pauschale Bestreitungen ohne substantiierten Gegenbeweis. Daher sah das Gericht die Überstunden als zugestanden an.
2. Pflicht des Arbeitgebers zur Arbeitszeiterfassung
Das LAG stützte sich auf die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) und betonte, dass Arbeitgeber nach einem unionsrechtskonformen Verständnis von § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG verpflichtet sind, ein System zur Erfassung der täglichen Arbeitszeit einzuführen. Zwar habe dies unmittelbar keine Auswirkungen auf die Darlegungs- und Beweislast im Überstundenprozess, doch könne sich der Arbeitgeber bei fehlender Arbeitszeiterfassung nicht auf die Unklarheit hinsichtlich der Arbeitszeiten berufen.
Diese Verpflichtung resultiert aus der Entscheidung des BAG vom 13. September 2022 (1 ABR 22/21), die auf die EU-Arbeitszeitrichtlinie zurückgeht. Im vorliegenden Fall hatte die Beklagte keine Arbeitszeitaufzeichnungen geführt, sodass sie auch keine substantiierten Gegenargumente gegen die von der Klägerin behaupteten Überstunden vorbringen konnte.
3. Anordnung und Duldung von Überstunden
Ein weiterer zentraler Punkt der Entscheidung war die Frage, ob die Überstunden angeordnet, geduldet oder notwendig waren:
- Anordnung: Die Klägerin behauptete, dass die Überstunden aufgrund der ihr übertragenen Aufgaben unausweichlich gewesen seien.
- Duldung: Das Gericht sah eine Duldung als gegeben an, weil der Geschäftsführer der Beklagten im Betrieb mitarbeitete und von den Überstunden Kenntnis hatte, ohne dagegen vorzugehen.
- Notwendigkeit: Die Vielzahl und die Art der Tätigkeiten der Klägerin ließen es als plausibel erscheinen, dass die Überstunden zur Erledigung der Arbeitsaufgaben erforderlich waren.
Die Beklagte konnte hingegen weder organisatorische Maßnahmen zur Beschränkung der Arbeitszeit darlegen noch substantiiert vortragen, wer außer der Klägerin die anfallenden Arbeiten erledigt haben könnte. Insofern war die Annahme gerechtfertigt, dass die Überstunden durch konkludente Anordnung oder zumindest durch Duldung erfolgten.
Folgen der Entscheidung für die Praxis
Das Urteil des LAG Niedersachsen hat weitreichende Implikationen für die Praxis:
- Stärkung der Arbeitnehmerrechte: Die Entscheidung erleichtert es Arbeitnehmern, Überstundenvergütungen erfolgreich geltend zu machen, wenn der Arbeitgeber keine ordnungsgemäße Zeiterfassung vorlegt.
- Pflicht zur Zeiterfassung: Arbeitgeber sollten dringend ein zuverlässiges System zur Erfassung der Arbeitszeiten einführen, um sich gegen Überstundenansprüche zu schützen.
- Beweislastverlagerung: Auch wenn formal keine Umkehr der Beweislast erfolgt, wird der Arbeitgeber durch das Fehlen von Zeiterfassungen faktisch erheblich in die Defensive gedrängt.
Das Gericht machte deutlich, dass der Arbeitgeber nicht einfach pauschal bestreiten kann, ohne selbst detaillierte Aufzeichnungen vorzulegen. Dies verschafft Arbeitnehmern eine deutlich bessere Position in Überstundenprozessen.
Die Quintessenz lautet: Wer keine Arbeitszeit erfasst, verliert schnell die Kontrolle über die Überstundenvergütung.
Fazit
Die Entscheidung des LAG Niedersachsen schafft Klarheit hinsichtlich der Anforderungen an die Darlegungs- und Beweislast bei Überstunden und betont die Bedeutung einer ordnungsgemäßen Arbeitszeiterfassung durch den Arbeitgeber. Das Urteil stärkt die Position der Arbeitnehmer erheblich und setzt Arbeitgebern deutliche Grenzen. Unternehmen sind gut beraten, schnellstens ihre Arbeitszeiterfassung zu überprüfen und anzupassen, um künftig ähnliche Streitigkeiten zu vermeiden.
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