Rechtsprechung ist ein öffentliches Gut – doch was gilt, wenn personenbezogene Daten in veröffentlichten Entscheidungen auftauchen? Mit seinem Urteil vom 09.05.2025 (Az. 324 O 278/23) hat das Landgericht Hamburg eine klare und begrüßenswerte Linie gezogen: Die gemeinnützige Plattform Openjur durfte eine Gerichtsentscheidung veröffentlichen, obwohl darin der vollständige Name eines Rechtsanwalts enthalten war. Der Kläger blieb erfolglos – zu Recht, wie ich meine. Denn frei zugängliche, umfassende Urteilsdatenbanken sind ein unverzichtbarer Bestandteil rechtlicher Transparenz und Wissenschaftsfreiheit.
Sachverhalt
Der Kläger – ein Berliner Rechtsanwalt – war Antragsteller in einem verwaltungsgerichtlichen Eilverfahren. In dem Beschluss vom 5. Mai 2022 fanden sich Angaben zu seiner beruflichen und finanziellen Situation, darunter frühere Arbeitslosigkeit und Rückstände bei berufsständischen Beiträgen. Die Entscheidung wurde in nicht-anonymisierter Form in der Berliner Landesrechtsprechungsdatenbank veröffentlicht. Openjur übernahm sie automatisiert und machte sie – ebenfalls nicht anonymisiert – online zugänglich.
Der Kläger verlangte von Openjur Unterlassung, Auskunft und Schadensersatz, da die Veröffentlichung angeblich sein Persönlichkeitsrecht verletze. Nach Entfernung des Namens durch die Beklagte kam es dennoch zur Klage, über die nun das LG Hamburg entschied. Das LG Hamburg wies die Klage dabei vollumfänglich ab. Der Betrieb einer offenen und frei zugänglichen Rechtsprechungsdatenbank ist rechtmäßig – auch wenn einzelne Entscheidungen automatisiert übernommen werden und inhaltlich sensible Informationen enthalten. Maßgeblich ist, dass diese Informationen zuvor von staatlicher Seite öffentlich gemacht wurden.
Rechtliche Analyse
Anwendbarkeit der DSGVO – Bereichsausnahme für journalistische Zwecke
Das Gericht stellte zunächst fest, dass die DSGVO aufgrund der sog. Bereichsausnahme für journalistische Zwecke (Art. 85 Abs. 2 DSGVO) nicht unmittelbar greift. Diese Ausnahme dient dem Ausgleich zwischen Datenschutz und Meinungs- bzw. Informationsfreiheit. Sie greift dann, wenn die Datenverarbeitung zu journalistischen oder wissenschaftlichen Zwecken erfolgt – und genau das sei hier der Fall: Openjur wählt, strukturiert, verschlagwortet und kuratiert Entscheidungen. Das Gericht wertete dies als redaktionelle Tätigkeit mit journalistischem Charakter.
Keine Persönlichkeitsrechtsverletzung
Auch nach nationalem Recht (§§ 823 Abs. 1, 1004 Abs. 1 S. 2 BGB analog i.V.m. Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1 GG) erkannte das LG keine rechtswidrige Persönlichkeitsrechtsverletzung. Zwar sah es eine Beeinträchtigung, da die Preisgabe beruflicher und finanzieller Umstände geeignet sei, das Ansehen des Klägers zu schädigen. Doch entscheidend sei, dass die Veröffentlichung auf einer amtlichen Quelle beruhte. Die Entscheidung war bereits öffentlich und für jedermann zugänglich.
Zudem handelte Openjur ohne eigenes Verschulden und nahm den Inhalt nicht zu eigen. Das Vertrauen auf die Richtigkeit amtlicher Veröffentlichungen sei gerechtfertigt – auch im Sinne des § 193 StGB (Wahrnehmung berechtigter Interessen).
Kein Anspruch auf Unterlassung oder Geldentschädigung
Der Kläger konnte weder Wiederholungsgefahr noch einen immateriellen Schaden darlegen, der eine Geldentschädigung rechtfertigen würde. Selbst eine verspätete Auskunft (nach Art. 15 DSGVO) begründete nach Ansicht des Gerichts keinen ersatzfähigen Schaden.
Recht lebt von seiner Zugänglichkeit. Die Entscheidung des LG Hamburg stärkt nicht nur die Pressefreiheit und Informationsfreiheit, sondern auch die Rechtskultur insgesamt. Gerade in Zeiten zunehmender Intransparenz und Filterblasen sind Plattformen wie Openjur unverzichtbar. Die Entscheidung verdient daher volle Zustimmung – nicht nur aus juristischer, sondern auch aus gesellschaftlicher Sicht.
Fazit
Diese Entscheidung ist ein wichtiges Signal für die digitale Rechtsöffentlichkeit: Rechtsprechung muss öffentlich, auffindbar und frei zugänglich sein, wenn der Rechtsstaat funktionieren soll. Plattformen wie Openjur leisten einen unschätzbaren Beitrag zur juristischen Bildung, zur Nachvollziehbarkeit staatlichen Handelns und zur demokratischen Kontrolle.
Wer Informationen im Rahmen eines Gerichtsverfahrens offenlegt – und nicht gegen deren Veröffentlichung versucht Widerspruch einzulegen bzw. an der Quelle auf Fehler reagiert –, muss mit einer breiteren Rezeption rechnen. Die Internetöffentlichkeit ist keine neue Öffentlichkeit – sondern nur die konsequente Fortsetzung des Öffentlichkeitsgrundsatzes in der digitalen Welt.
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