Ausgangspunkt: Cicero und der General … im Jahr 2005 veröffentlichte das Politikmagazin Cicero einen Artikel mit dem Titel „Der gefährlichste Mann der Welt“, der sich mit dem jordanischen Terroristen Abu Musab az-Zarqawi befasste. Der Artikel basierte teilweise auf internen Dokumenten des Bundeskriminalamts. Die Staatsanwaltschaft Potsdam leitete daraufhin ein Ermittlungsverfahren gegen den Autor und den Chefredakteur des Magazins wegen des Verdachts auf Beihilfe zum Verrat von Dienstgeheimnissen (§ 353b StGB) ein. Es kam zur Durchsuchung der Redaktionsräume sowie der Privatwohnung des Journalisten.
Was folgte, war ein Lehrstück über das Verhältnis von Strafverfolgung und Pressefreiheit – und eine der bedeutendsten Entscheidungen zur Medienfreiheit in der deutschen Rechtsgeschichte. Update: Absatz zur Situation im Jahr 2025 eingefügt.
Die Entscheidung des BVerfG (Beschl. v. 27.2.2007 – 1 BvR 538/06)
Das Bundesverfassungsgericht erklärte die Durchsuchungen für verfassungswidrig. Es stellte klar: Ermittlungsmaßnahmen gegen Presseorgane dürfen nicht dazu dienen, deren Quellen aufzudecken oder die redaktionelle Arbeit zu durchleuchten, solange gegen die betroffenen Journalist:innen nicht ein konkreter, belastbarer Tatverdacht besteht.
Zentrale Aussagen des BVerfG:
- Pressefreiheit ist mehr als ein Individualrecht:
Sie dient nicht nur dem Schutz des Mediums, sondern hat eine dienende Funktion für die Allgemeinheit. Sie ist Voraussetzung für eine demokratische Öffentlichkeit. - Ermittlungsmaßnahmen dürfen keine „abschreckende Wirkung“ entfalten:
Schon die Durchsuchung als solche kann Informanten abschrecken. Der sogenannte „chilling effect“ bedroht strukturell die redaktionelle Unabhängigkeit und gefährdet die Kontrollfunktion der Presse. - Die Veröffentlichung von Verschlusssachen ist nicht per se strafbar:
Das Gericht differenziert zwischen der strafbaren Preisgabe durch Amtsträger und der anschließenden Veröffentlichung durch die Presse. Letztere ist – soweit keine weiteren qualifizierenden Umstände vorliegen – durch Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG geschützt. - Der Anfangsverdacht war unzureichend:
Allein die Veröffentlichung von vertraulichen Informationen begründet noch keinen Tatverdacht gegen den Journalisten. Die Ermittlungsbehörden dürfen nicht „ins Blaue hinein“ journalistische Arbeit kriminalisieren, um auf diesem Wege interne Lecks aufzudecken.
Pressefreiheit ist kein Komfort, sondern eine Notwendigkeit. Und sie ist nur so stark wie ihre juristische Absicherung – in Karlsruhe, aber auch in den Amtsstuben der ersten Instanz.
Rechtsanwalt Jens Ferner
Systematische Einordnung: Kontinuität und Fortschreibung
Das Cicero-Urteil steht in einer Linie mit anderen Leitentscheidungen des BVerfG zur Pressefreiheit – insbesondere dem berühmten Spiegel-Urteil von 1966 (BVerfGE 20, 162), aber auch späteren Beschlüssen wie dem Berliner Morgenpost-Fall (1 BvR 1089/13) oder der Radio Dreyeckland-Rechtsprechung.
Das Gericht betont regelmäßig: Wo die Presse in ihren Arbeitsgrundlagen gefährdet wird – etwa durch Einschüchterung, Kontrolle oder die Offenlegung redaktioneller Quellen –, ist nicht nur ein individuelles Grundrecht betroffen, sondern die Funktionsfähigkeit der demokratischen Öffentlichkeit selbst. Die Presse agiert als „Wachhund“ gegenüber staatlicher Macht – und darf deshalb nicht wie ein Feind behandelt werden.
Update: Pressefreiheit unter Druck
Der Cicero-Beschluss bleibt auch heute hochaktuell: In Zeiten wachsender staatlicher Überwachung, zunehmender Polarisierung und sinkenden Vertrauens in Medien gewinnt die Debatte um die Pressefreiheit neue Schärfe. Die seit damals bekannt gewordenen Fälle Herterich, Radio Dreyeckland oder netzpolitik.org zeigen, dass strafprozessuale Maßnahmen weiterhin als Mittel genutzt werden, um journalistische Arbeit zu delegitimieren oder zu kontrollieren – auch wenn sie im Nachhinein oft von Gerichten kassiert werden.
Doch es ist nicht der Exzess, sondern die Routine, die gefährlich ist: Wenn Staatsanwaltschaften allzu leicht Durchsuchungen beantragen und Amtsgerichte diese ebenso leicht durchwinken, dann entfalten sich präventive Effekte, die man nicht mehr messen, aber sehr wohl spüren kann. Der Einschüchterungseffekt tritt bereits mit dem ersten Polizeiklingeln ein – und ist, wie das BVerfG selbst sagt, oft irreversibel.
Fazit: Cicero bleibt Mahnung
Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts im Fall Cicero ist nicht nur ein juristisches Bollwerk zugunsten der Pressefreiheit – sie ist ein Signal an alle Organe des Rechtsstaats: Strafverfolgung darf nicht zur Disziplinierung kritischer Medienarbeit missbraucht werden. In einer Zeit, in der investigative Recherchen häufig auf staatliches Fehlverhalten oder geheimdienstliche Praktiken stoßen, ist es die Pflicht des Rechtsstaats, genau diese Arbeit besonders zu schützen – und nicht zu verfolgen.
- Begrenzung des Bewährungswiderrufs durch Vertrauensschutz - 8. Juli 2025
- OLG Köln zur Bezeichnung „Dubai Chocolate“ - 7. Juli 2025
- BayObLG zur Verbreitung verfassungsfeindlicher Inhalte auf Facebook - 7. Juli 2025