Der EUGH (C-435/22) hat klargestellt, dass die Behörden eines Mitgliedstaats einen Drittstaatsangehörigen nicht an einen anderen Drittstaat ausliefern dürfen, wenn dieser
Drittstaatsangehörige in einem anderen Mitgliedstaat wegen derselben Taten wie denen, auf die sich das Auslieferungsersuchen bezieht, rechtskräftig verurteilt worden ist und die dort verhängte Strafe verbüßt hat.
Das Oberlandesgericht München (Deutschland) hat über ein Auslieferungsersuchen zu entscheiden, das von den
Behörden der Vereinigten Staaten von Amerika an die deutschen Behörden gerichtet wurde, um gegen einen serbischen Staatsangehörigen im Wege der Strafverfolgung vorzugehen; dieser wurde daher in Deutschland vorläufig festgenommen.
Die US-amerikanischen Behörden werfen dem Betroffenen vor, von September 2008 bis Dezember 2013 an der Verabredung zur Beteiligung an kriminell beeinflussten korrupten Organisationen und der Verabredung zur Begehung von Bankbetrug und Betrug mittels Fernmeldeeinrichtungen beteiligt gewesen zu sein.
Was die bis Juni 2010 begangenen Straftaten betrifft, war der Betroffene nach den Angaben des Oberlandesgerichts München aber bereits in einem anderen Mitgliedstaat, nämlich Slowenien, für dieselben Taten rechtskräftig verurteilt worden. Zudem hat er die dort verhängte Strafe vollständig verbüßt.
Aus diesem Grund stellt sich das Oberlandesgericht München die Frage, ob das Verbot der Doppelbestrafung (Grundsatz ne bis in idem), wie es durch das Übereinkommen zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen und die Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) verbürgt ist, der Entscheidung, dem Auslieferungsersuchen stattzugeben, entgegensteht. Der bei diesem Gericht insoweit bestehende Zweifel rührt insbesondere daher, dass der zwischen Deutschland und den Vereinigten Staaten geschlossene Auslieferungsvertrag die Anwendung des Grundsatzes ne bis in idem nur für den Fall einer Verurteilung im ersuchten Staat, hier Deutschland, vorsieht, und nicht bei einer außerhalb dieses Mitgliedstaats erfolgten Verurteilung. Dies veranlasste das Oberlandesgericht München, den Gerichtshof zu diesem Thema zu befragen.
Mit seinem Urteil antwortet der Gerichtshof, dass der durch das Übereinkommen zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen und die Charta verbürgte Grundsatz ne bis in idem der Auslieferung eines
Drittstaatsangehörigen an einen anderen Drittstaat durch die Behörden eines Mitgliedstaats entgegensteht, wenn dieser Drittstaatsangehörige in einem anderen Mitgliedstaat wegen derselben Taten wie denen, auf die sich das Auslieferungsersuchen bezieht, rechtskräftig verurteilt worden ist und die dort verhängte Strafe verbüßt hat. Der Umstand, dass das Auslieferungsersuchen auf einem bilateralen Auslieferungsvertrag beruht, der die Reichweite des Grundsatzes ne bis in idem auf die Urteile beschränkt, die in dem ersuchten Mitgliedstaat ergangen sind, ändert nichts an diesem Ergebnis.
Der Gerichtshof betont, dass der vom Übereinkommen zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vorgesehene Grundsatz ne bis in idem im Schengen-Gebiet auch für Drittstaatsangehörige gilt, und zwar unabhängig davon, ob ihr Aufenthalt rechtmäßig war oder nicht. Eine andere Lösung würde im Verhältnis zwischen den Mitgliedstaaten die Grundlage des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts als Raum ohne Binnengrenzen in Frage stellen sowie gegen die Grundsätze des gegenseitigen Vertrauens und der gegenseitigen Anerkennung von Gerichtsentscheidungen in Strafsachen verstoßen, auf denen der durch dieses Übereinkommen verbürgte Grundsatz ne bis in idem beruht.
Hinsichtlich des Umstands, dass der zwischen Deutschland und den Vereinigten Staaten geschlossene Auslieferungsvertrag die Anwendung des Grundsatzes ne bis in idem nicht für Urteile vorsieht, die in einem anderen Mitgliedstaat ergangen sind, weist der Gerichtshof darauf hin, dass die nationalen Gerichte angesichts der unmittelbaren Wirkung der Bestimmungen der Charta und des Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen, in denen dieser Grundsatz verankert ist, jede Bestimmung dieses Vertrags, die mit diesem Grundsatz unvereinbar ist, aus eigener Entscheidungsbefugnis unangewendet lassen müssen. (Quelle: Pressemitteilung des Gerichts)
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